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helmut ploebst

Black Box Down on Grigori

HOTSCHIT: IM JAHR 2089, FRAGMENT #1 (2025)

Von dem Autor

Ein Faß fällt um.

Nur wenige Sekunden davor ist ein Schaudern durch die Landschaft gezogen, unmittelbar danach faucht eine heiße Brise durch die weitläufige Anlage aus verlassenen Betonbauten.

An den Fenstern eines ehemaligen Frachtlagers im Osten des von einer hohen Mauer umgrenzten Areals knistern Sandfahnen.

Ein paar kleine Staubteufel hetzen über den halb zugewehten Asphalt der Lagerzufahrt. In der Nähe gerät ein rostiges, über Masten gespanntes Drahtseil ins Schwingen.

Leise winseln seine Halterungen.

Das Seil selbst gibt ein sonores Summen von sich, das abbricht, sobald die Brise nachläßt.

Weit spannt sich ein stumpforangefarbener, gerippter Himmel über die staubtrockene Landschaft mit ihren Bergen fern im Nordwesten und sanften Hügeln im Osten, auf deren nacktem Geröll vielfach gebrochene Schatten holpern.

 

Der Wind hat die wenigen verbliebenen Haarbüschel einer Gestalt gezaust, die im Halbschatten an der Lagerhalle lehnend mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden sitzt und das erst knirschende, dann dumpfe Geräusch der kippenden Dreihundertlitertonne nicht hören konnte.

Ein Verlorener ohne Atem. Längst ist die letzte der Generationen von Fliegen, die sein Körper genährt hat, verschwunden.

Aus einem Riß im schmutzigblauen Kunststoff des Fasses quillt eine zähe Masse und bildet eine gelbgraue Lacke unter dem letzten Licht der Sonne, die den ganzen Tag auf das Gelände gebrannt hat und jetzt ins Schwefelgelb des Horizontes sinkt.

 

Trüb flimmert die Luft.

Unter einem glühend rot angeleuchteten Netz aus Wolkenstreifen gleitet ein langgezogenes Gebirge, dessen Gipfel und Klüfte zur Erde hin zacken, als wären sie die Fata Morgana einer realen Felskette.

Sein Schatten treibt knapp an der Leiche vorbei, die einen hellgrauen, faltigen und stark fleckigen Overall trägt. An dessen linkem Ärmel ist ein Aufnäher mit dem Wort RAKOS geklebt, und die rechte Brustseite lässt einen gestickten Namen erkennen: Šrapnel Grigori. Wie eine versteinerte Schiffsruine in den Ausmaßen eines Gebirges zieht das verkehrte Massiv in Richtung der nordöstlich gelegenen Hauptstadt.

Auch Šrapnel, das weiß jeder, der ihn kannte, wäre nicht imstande gewesen, dieses Ungetüm eindeutig zu identifizieren. Also hätte er weggeschaut und geschwiegen wie alle, wenn sie solche Objekte erblicken, die tagsüber nur selten unterwegs sind und nachts niemandem auffallen, weil sie sich gegen den seit Jahren sternenlos bleibenden Himmel nicht abheben.

Für das Radar bleiben sie ohnehin unsichtbar. Hätte Šrapnel jetzt hochgeschaut, wäre er Zeuge davon geworden, wie das Gebirge langsam transparent wird und, bevor es sich auflöst, einen hausgroßen, grob ovalen Brocken abwirft, der lautlos im Boden neben der Anlage versinkt.

 

Ein Wispern dringt leise aus der sich ausdehnenden Lacke, als sie die Ferse von Šrapnels rechtem Stiefel erreicht, dessen Gummisohlenprofil den Schriftzug LACHNUR umschließt. Im Sand gleich neben dem anderen Stiefel liegt ein geöffnetes und leeres Fläschchen mit dem Etikett WODKA Xa-Xa-Xa.

Tief im Boden, unter

dem skelettierten Hintern des Mannes,

dem leckenden Faß mit seinem zischelnden Ausfluß,

dem gesamten Areal der aufgegebenen Anlage,

das von kleinen Eidechsen bevölkert wird, die geschickt giftige Sandspinnen fressen und ihrerseits von Wüstenmäusen gejagt werden,

zieht sich das weitläufige System des russisch-österreichischen Weltraumbahnhofs RAKOS, dessen offizielle Zufahrt dort zu finden ist, wo früher südlich der Kasematten von Wienowgorod, dem ehemaligen Wiener Neustadt, ein Parkplatz war.

 

Wie viele aus der Belegschaft des Kosmodroms besaß auch Šrapnel einige bewohnbare Räume in dem großteils zerstörten und ansonsten menschenleeren Städtchen. Was aus der ursprünglichen Bevölkerung wurde?

»Vom Winde verweht«, heißt es lakonisch dazu.

»Die Zeit ist verstopft«,

steht krakelig auf der Wand einer Frauentoilette der Administration. Daneben hat jemand mit kalligraphischer Sorgfalt gemalt: »Мне все равно нужно в туалет«

 

Nachdem Šrapnel eines Tages vor siebenundzwanzig Wochen nicht mehr zur Arbeit in Sektion 3 erschienen war und verschollen blieb, wurde er durch eine aufgeweckte Jungakademikerin namens Antonina Piljus aus Nischni Nowgorod ersetzt, die sich gerade zu Studienzwecken am Kosmodrom aufhielt.

Der Kalender zeigt den 26. Oktober 2089.

Antonina entdeckt die beiden Klosprüche an ihrem dritten Arbeitstag und amüsiert sich über die russische Anmerkung »Ich muß trotzdem aufs Klo«.

Von ihrem Vorgänger hat sie bisher nie etwas gehört.

 

Etwas entfernt, in Sektion 9, bereitet sich das Kosmonautenteam Uvita Karaschobdschuk und Gernmichel Tsawosisdes ohne Eile auf seinen für Sylvester geplanten Flug zur Lunarbasis Agiatogor am Rand des Mare Crisium vor. Als Karaschobdschuk eines Abends in der Bar Schpelunka mit ein paar Kolleginnen einem mäßigen Rausch entgegendriftet, erblickt sie die ins Resopal der Tischplatte eingekratzten Wörter HOT SHIT DOWN ON ME.

Laut lacht sie auf

und zeigt den anderen ihre Entdeckung. Alle fixieren die Stelle, auf die Uvita zeigt, aber sie können nichts entdecken. Als Uvita erst verblüfft ist, dann aber auf ihrer Entdeckung beharrt und schließlich wütend wird, zwinkern ihre Tischgenossinnen einander zu und entschuldigen sich bei ihr dafür, sie geneckt zu haben.

 

Etwa zwei Stunden später sind sie gegangen, doch Uvita sitzt noch nachdenklich an dem Tisch mit der eingeritzten Botschaft. Zufällig schaut sie auf den Boden der spärlich beleuchteten Schpelunka und meint zu erkennen, dass der Beton des Bodens hier ein wenig transparent ist und sich darunter oder darin drei undeutliche Schatten bewegen.

 

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»Astniswal Elm will nicht als Gespenst in Fein auftreten«, erklärt der Monstrator mit schläfriger Stimme. Seit Anfang 2089 wird die österreichische Hauptstadt – oder russisch Вена – mehr oder weniger offiziell auch Fein genannt.

»Wer?« Langsam hebt die Souffleuse ihren Kopf. ›Möglicherweise bin ich für einen Augenblick eingenickt‹, denkt sie.

Der Monstrator holt tief Luft und streckt seine Arme. »Elm.«

»Elmstraße«, murmelt der Korrektor. Er hat den Kopf in seine Arme auf der Tischplatte gebettet. »Wo die Alpträume mit Frederick Charles Krueger wahr wurden.«

Monstrator: »Nein, der polnische Schriftsteller, der den Roman Harey kehrt zurück geschrieben hat.«

Souffleuse: »Bin ich wirklich eingeschlafen?«

Der Korrektor richtet sich auf: »Einen Astniswal Elm kenne ich nicht. Aber der Name klingt wie ein Anagramm von Stanisław Lem.«

»Ja, Lem!« Der Monstrator klatscht mit einer Hand auf seinen Glatzkopf und mit der anderen auf die Tischplatte.

Souffleuse: »Es war vielleicht Sekundenschlaf.«

Korrektor: »Und – er hat keinen Roman mit dem Titel Harey kehrt zurück geschrieben.«

»Vielleicht ist Astniswal Elm das Gespenst des Stanisław Lem«, gibt der Monstrator zu bedenken, »als das er nicht in Fein auftreten will.«

Souffleuse: »Woher willst du wissen, dass Lem nicht als Elm …«

»Sekundenschlaf, Träume, Elmsfeuer, Namensschaden!«, ruft der Korrektor. »Wir sind alle noch müde.«

Der Monstrator massiert seine Tränensäcke: »Stimmt – die jahrelangen Dienste ...«

Souffleuse: »… sind erschöpfend. Immer beobachten, sich einfühlen und navigieren.«

Korrektor: »Offenbar ein neuer Einsatz. Wo sind wir?«

Monstrator: »Gerade gelandet unter dem Kosmodrom RAKOS in Wienowgorod, Donaustria.«

Souffleuse: »Ein toter Mann.«

Monstrator: »Ich hätte geschworen, der Titel lautet Harey kehrt zurück

Souffleuse: »Und ich, daß diese Stadt einmal anders geheißen hat.«

Korrektor: »So viele Namen haben sich geändert ...«

Plötzlich macht die Souffleuse große Augen: »Ich werde euch jetzt etwas flüstern. Herr Lem hat 1971 das zweibändige fiktive Buch De Impossibilitate Vitae / De Impossibilitate Prognoscendi von Cezar Kouska besprochen, der, dem Rezensenten zufolge, das Vorwort in Band eins mit Benedykt Kouska unterzeichnete.«

Jetzt ist der Monstrator hellwach: »Das unbändige Buch!«

Er deutet um sich auf die Wände des Raums, in dem sich das Trio befindet. »Unmöglich vorherzusagen, wie Cezar und Benedykt Kouska diesen ›Lem‹, der Harey nicht zurückkehren läßt, noch decken wollen, wenn er sich wer weiß wann in Fein als Gespenst einstellen muß.«

Korrektor: »Ich möchte vorschlagen, die Figur des Krueger sicherheitshalber zu eliminieren. Wer stimmt zu?«

Alle heben die Hände.

»Aber«, wendet der Monstrator ein, »das Lemsfeuer lässt sich nicht mehr löschen. Und auch Harey wird uns erhalten bleiben, ob Elm nun will oder nicht.«

Der Korrektor und die Souffleuse nicken, als würden sie sich einem schweren Schicksal ergeben.

Korrektor: »Die Physik muß einsehen, wie der Kosmologe Engelfried Verbeser in einem künftigen Interview zugeben wird, daß in unserem Universum ein Sekundenschlaf alles verändern kann.«

Monstrator: »Auch wenn die Beweise fehlen!«

Souffleuse: »Morpheus’ Physik. Manchmal genügt ein Gerücht.«

Monstrator: »So wird die Zukunft.«

 

Ein heller Punkt, eine leuchtende Linie. Und schon ist die Ruhe im Salon dieser frisch arretierten Kapsel unter dem Weltraumbahnhof der Kosmoperative RAKOS vorbei.

Die drei auf ihren mäßig bequemen Sesseln um einen runden Tisch mit einem Durchmesser von π Metern zucken zurück, als sich der vertikale Lichtstreifen über der Tischmitte in eine virtuelle Gestalt verwandelt. Sie erinnert an ein etwa zwölfjähriges Kind.

Um diese Erscheinung kreist in deren Brusthöhe ein virtueller Gegenstand, der aussieht wie eine bauchige weiße Porzellanteekanne mit Schnabel und Henkel.

Nur langsam wird das Hologramm deutlicher.

Kurz stülpt die Kanne ihre Innenseite nach außen und nimmt sofort wieder ihre ursprüngliche Form an. Diese Bewegung wiederholt sich einmal, zweimal, abermals und dann fortlaufend.

Ein Rhythmus entsteht.

 

»Hat jemand den Projektor eingeschaltet?«, flüstert die Souffleuse.

»Nein«, heisert der Monstrator.

Die sich umstülpende Teekanne beginnt, um ihre eigene Achse zu rotieren.

»Elbis von Xeniken ist wieder verstorben und abermals zu den Sternen gereist.« Wie von weit entfernt die Stimme des Kindes.

Monstrator: »Das ist jetzt aber kein ...«

Korrektor: »… Lem.«

Irritiert winkt die Souffleuse ab: »Natürlich ist das kein Lem.« Die Stimme: »Jetzt bewegt sich der große Gelehrte Elbis von Xeniken als Astralleib durch Raum und Zeit, erforscht die toten Plejaden und übersieht den blutigen Planeten Stokab-Ram.«

Korrektor: »Wer ist Elbis …?«

Souffleuse: »Oh, das Kind spricht vielleicht von einem der alten Filme über die Zukunft!«

Die Stimme: »Ich habe ihn nachts getränkt, weil er so wissensdurstig war. Seither wecke ich ihn dann und wann auf und lasse ihn ziehen, wohin er muß. Zu Lebzeiten meinte er, immer schon zu wissen ...«

Der Monstrator ergänzt mit ironischem Unterton: »… daß sie gekommen sind.«

 

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In der Schpelunka lernt Antonina Piljus einige Tage nach ihrer Aufnahme zufällig Natalja Bondartschuk kennen, die ihr dann doch von einem gewissen Grigori Šrapnel erzählt: Er sei Antoninas Vorgänger in der Leitung des RAKOS-Dokumentationsarchivs gewesen.

Die beiden Frauen sitzen an einem Tischchen für zwei.

»Wenn hier jemand fortbleibt oder hinausfliegt, wird über diese Person nicht mehr gesprochen«, erklärt Natalja. »Das ist ein ungeschriebenes Gesetz bei RAKOS, aber es gibt natürlich trotzdem Gerede. Es heißt, Grigori hat es oft nach Wien … Fein gezogen. In der Stadt greift PBE nach der Macht, das ist ein Politkonzern wie unsere Gazprom-B. In der Unterstadt soll Grigori eine Person namens Hanna Logue getroffen haben, die ihn über unser Archiv ausfragte. Und er konnte nicht widerstehen, ihr einiges zu erzählen.«

 

»Wer ist diese Hanna Logue?«, fragt Antonina.

Natalja: »Ein Phantom, das in Verbindung mit einem privaten Geheimdienst stehen soll.« – »Woher weißt du das?« – »Ich leite die Spionageabwehr hier«, flüstert Natalja, »und werde auf dich achten. Unser Dokumentationsarchiv ist eine diskrete Angelegenheit.« – »Also hast du den redseligen Šrapnel beseitigt?« – »Nein.« – »Was ist mit ihm passiert?« – »Er hat sich von Hanna Logue überreden lassen, sie hier einzuschmuggeln.« – »Was wollte sie?« – »Ich habe beobachtet, wie er sie an den Rechnern arbeiten ließ. Sie brauchte keine Erklärungen, hat die Passwort-Sicherung überschrieben und sich eingeloggt. Mein Versuch, sie zu blockieren, ist fehlgeschlagen, also habe ich stillen Alarm ausgelöst. Als der Sicherheitsdienst kam, war sie verschwunden. Grigori hat erst so getan, als wüßte er von nichts.« – »Hat sie Daten abgegriffen?« – »Nein, aber sie hat ein Leck erzeugt, das wir nicht gleich erkannten.«

 

Ein alter Servierer hinkt herbei und bringt neue Getränke. Als er gegangen ist, vermutet Antonina: »Und später ist sie von außen eingedrungen.« – »Ja, sie hat aber nichts heruntergeladen, sondern Daten eingespielt.« – »Malware?« – »Schwer zu sagen. Grigori konnte ihre Dateien nicht verstehen. Er hat es wieder und wieder versucht. Keine Chance.« – »Also mußte er sie in deinem Auftrag wieder kontaktieren?« – »Gut geraten. Sie hat sich noch einmal mit ihm getroffen, sofort die Mikrowanze neutralisiert, die wir in seine Hand implantiert hatten, und ihm dann angeblich ihr Geheimnis verraten.« – »Das er ausgeplaudert hat?« – »Das er nicht verstehen konnte. Er sagte später, sie habe davon gesprochen, daß irgendein ›Hot Shit‹, der wie die Dunkle Materie auf uns einwirkt, über uns kommen und alles verändern wird, und daß die Erde eine Art Klon sein soll. Aber er hat ihre Worte nicht genau verstanden, und je mehr sie sagte, desto weniger sei bei ihm angekommen.« – »Zu viel Wodka?«

 

Natalja lehnt sich zurück: »Er war überzeugt, daß irgendetwas von außen die Kommunikation zwischen ihnen gestört hat. Schließlich stand Hanna Logue auf, entschuldigte sich dafür, ihn in diese Lage gebracht zu haben und verschwand, bevor die drei Agenten, die wir eingeschleust hatten, kapierten, daß sich die Frau bedroht fühlte.« – »Die Störung war nicht eure Aktion?« – »Nein, verdammt, wir wissen nicht, was es war! Aber in Grigori hat dieser Zwischenfall etwas kaputt gemacht. Wir brachten ihn nach Hause, am nächsten Tag kam er nicht mehr zur Arbeit.« – »Wollten deine Agenten die Frau kidnappen?« – »Das war eine Option.«

 

Antonina tippt sich nachdenklich auf die Nasenspitze: »Warum erzählst du mir das alles so genau?« – »Weil Grigori Šrapnel uns etwas hinterlassen hat, und weil du als seine Nachfolgerin wissen mußt, wieso im System des Dokumentationsarchivs Massen von Daten stecken, die wir weder verstehen noch verstecken oder löschen können.«

 

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Der Korrektor verzieht den Mund: »Wer sind – sie?« Jetzt scheint die Kinderstimme aus der kreisenden Kanne zu kommen: »Astronauten der Antike.«

Da seufzt der Korrektor und streckt sich, die Souffleuse erklärt: »In Washington DC gibt oder gab es eine Elbis von Xeniken University for Ancient Astronautics, in der …«

Da hebt der Monstrator die Hand,

schaut zur Decke und

unterbricht: »Ein Faß ist umgefallen!«

Souffleuse: »Wo?« – »Oben auf dem Gelände der alten Anlage, neben einer Leiche.«

Das Kind: »Es ist geplatzt!«

Über dem Kopf der virtuellen Gestalt schlingert weiß blinkend der Teekannendeckel.

»Irgendeine aggressive Flüssigkeit tritt aus«, stellt der Monstrator beunruhigt fest. »Ich lasse sie analysieren.« Mit bemüht ruhiger Stimme wirft der Korrektor ein: »Zwischen der Oberfläche und uns befinden sich das Kosmodrom und viele Meter Gestein!«

Souffleuse: »Du und ich haben nicht das Gesicht des Monstrators. Wir sollten uns in Bildern ansehen, was dort passiert.«

Das Kind und sein Satellit verschwinden.

 

Der Projektor startet.

Sofort ist an Stelle des Kindes, ultrascharf über dem Tisch, Grigori Šrapnels Leiche zu sehen. Ihr von eingetrocknetem Körpersaft verkrusteter Overall bedeckt weder die skelettierten Hände noch den Schädel, auf dem noch einige Kopfhaarbüschel haften.

Etwa eineinhalb Meter entfernt liegt das Faß, aus dem die gelbgraue Masse um den rechten Stiefel des Mannes kriecht.

»Analyse!«, kommandiert der Monstrator.

In Nahaufnahme ist zu sehen, daß die Flüssigkeit Bläschen wirft, die sich durch die Oberflächenbewegung in die Länge ziehen.

 

Das Ergebnis der Analyse wird eingeblendet: »Antikes Logoplasma. Mischung aus liquifizierter Kommunikationsmaterie und unbekannten biologischen Bindestoffen.«

Souffleuse: »Logoplasma …?«

Korrektor: »Antikes?«

Souffleuse: »Ach ja, ich erinnere mich: Kommunikationsmaterie! Aber die sollte es hier bei uns gar nicht geben, sie bildet sich doch nur in …« Sie verkneift sich den Namen, der die beiden anderen ja doch nur unruhig machen würde.

Der Boden, den das Logoplasma bereits bedeckt, dampft ein wenig. Wo die Masse Šrapnels Stiefel berührt, steigt eine größere Blase auf und platzt. Das Plasma schäumt, aus seinem Gelbgrau wird gedämpftes Senfgelb, die Masse scheint innerlich aufzukochen, blubbert ein wenig und beruhigt sich wieder.

Sobald sie in den Stiefel eindringt, wechselt ihre Farbe in Dunkelgrau.

 

Zögernd bildet das Plasma einen kleinen Ring, der sich von ihm abtrennt, schwarz verfärbt, als O auf Šrapnels Kopf zuschwebt und in einer seiner Augenhöhlen verschwindet.

Weitere Formen erscheinen: ein kleiner Haken, diverse Zäpfchen und Kügelchen, eine Klammer, ein Löffel, ein Anch-Schlüssel, ein Schnuller. Ein Schwarm aus winzigen Pyramiden und anderen geometrischen Körpern schwirrt auf.

Sobald diese Formen durch die Luft treiben, werden auch sie schwarz.

Ein R steigt hoch.

Ihm folgen weitere Buchstaben: E, T, S, I, E, N, P, C, A und wieder ein E.

Diese Zeichen schwingen leicht, geraten durcheinander, heften sich an die Wand hinter der Leiche, und die drei um den Tisch unten im Bunker lesen auf dem Beton:

 

REST IN PEACE.

 

»Woher soll dieses ›Logoplasma‹ sein?«, fragt der Korrektor. Der Monstrator starrt in die Projektion: »Hier steht, RAKOS hat die fünf Fässer vor Jahren von der Elbis von Xeniken University mit dem Auftrag übernommen, ihren Inhalt im Weltraum zu entsorgen. Damals hieß es, das dort so genannte ›Exoplasma‹ sei von Außerirdischen in der Absicht gebracht worden, alles Tote auf dem Planeten lebendig zu machen. Doch unter den natürlichen Bedingungen auf der Erde habe das nicht funktioniert.«

Korrektor: »Von ›Außerirdischen‹? Diese Geschichte mußte wohl korrigiert werden.« Der Monstrator liest weiter vor: »Ägyptische Archäologen hatten in einer antiken unterirdischen Kammer bei Alexandria zehn luftdicht verschlossene Keramikkrüge entdeckt und diese provisorisch in ein Lager nahe der Stadt gebracht. Dort wurden sie von ›Forschern‹ der Elbis von Xeniken University ausfindig gemacht.«

Souffleuse: »Ich kann mir schon vorstellen, was jetzt kommt.«

Monstrator: »Diese Leute haben noch vor Ort heimlich einen der Krüge geöffnet …«

Souffleuse: »Na sicher!«

Monstrator: »… und versucht, den Inhalt zu analysieren. Drei Mitglieder des Teams, heißt es, seien während der Untersuchung kollabiert. Ein viertes sagte aus, nachdem die Aktion aufgeflogen war, das Plasma lasse seltsame Dinge erscheinen oder Stimmen erklingen, die ›in Zungen sprechen‹. Oder in seiner Nähe würden sich Worte in betäubenden Dunst verwandeln, den die Substanz in sich aufsauge.«

Souffleuse: »Schon war das antike Logoplasma kontaminiert. Und wie kommt es hierher?«

Monstrator: »Die Ägypter haben es unvorsichtigerweise der Xeniken University überlassen. Dort kam man auf die Idee, die Fässer müßten ins All transportiert werden, und lieferte die Fässer an RAKOS. Weil aber das Geld für den Transport fehlte, wurden sie hier abgestellt und dann vergessen.«

Korrektor: »Was, wenn diese Geschichte Mumpitz ist?!«

Überrascht deutet die Souffleuse in die Projektion: »Anscheinend sehen wir hier den Beweis.« Denn auf der Wand, über Šrapnel, ist nun statt REST IN PEACE zu lesen:

 

EIN GRIGORI WIRD WIEDERGEBOREN

 

Der Körper bewegt sich.

»Es muß doch oben schon stockfinster sein«, meint die Souffleuse.

Monstrator: »Ja, aber wir arbeiten mit lokaler Entdunkelung.«

Abermals verändert sich die Schrift:

 

GRIGORI

IST KEINE BOX UND KEIN ELBIS.

GRIGORI IST EIN WORT.

HE IS LOOKING FOR THE STARS.

LANGE NACHT IN DER KAMMER.

KURZER TAG IN WASHINGTON.

SAGT DER ELBIS: ›WIR MÜSSEN DAS ZEUG LOSWERDEN!‹

GRIGORI FÜHLT SICH NICHT, WIE ER SICH FÜHLEN MÖCHTE.

DIE BOX IST BEI RAKOS.

NICHT IN DER KAMMER, NICHT IN WASHINGTON.

HANNA, WALK WITH ME.

 

Die drei Beobachter schauen zu, wie Šrapnels Körper sich aufrichtet und wankend vor der Mauer steht, mit richtigen Händen und menschlichem Gesicht, die einschließlich der Augen blaßgelb wirken, als wären sie frisch aus gefärbtem Gips gegossen worden.

 

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Antonina und Natalja sitzen in einem Raum des Dokumentationsarchivs.

»Das haben wir in Grigoris Wohnung gefunden«, sagt Natalja und deutet auf einen mattschwarzen Würfel, der auf einem Podest steht.

»Die Maße sind 10π Zentimeter hoch drei, das Gewicht ist exakt 10π Kilogramm«, erklärt sie. »Und keine Öffnung! Vor drei Tagen bin ich morgens in den Aufbewahrungsraum gekommen, da ist das Ding knapp unter der Decke geschwebt.« Natalja zuckt mit den Schultern. »Es war ein Fehler, den Würfel hier unterzubringen.« – »Was ist dann passiert?« – »Ich bin aus dem Raum geflüchtet und später mit einem Agenten aus meiner Abteilung wiedergekommen. Da stand der Würfel wieder an seinem Platz.«

 

Die Tür öffnet sich, eine Gestalt tritt ein.

Beide Frauen springen auf.

Alarm schrillt.

Wenig später liegt Grigori Šrapnels Wiedergänger, mit Gurten fixiert, auf einem Tisch der Krankenstation. RAKOS-Chefingenieur Dimitri Katzinger, Stationsvorstand Dr. Valeri Perlwein und Natalja, die sich von ihrem Schock noch nicht ganz erholt hat, stehen am Fußende des Tischs.

»Es ist Šrapnels Overall, aber der Mann ist nicht Šrapnel«, sagt Perlwein.

Die Gestalt öffnet die Lippen und röchelt: »Der Mann ist nicht Šrapnel. Grigori sucht die Sterne.«

Natalja: »Das klingt auch nicht nach seiner Stimme.«

 

Der Wiedergänger macht die Augen auf.

Er starrt an die Decke: »Der Mond ist ein Würfel.« Die drei folgen seinem Bick und erblicken den schwarzen Kubus, der über dem Gesicht des Wiedergängers an der Decke schwebt.

Antonina steht in der Tür und lacht nervös: »Ich bin beeindruckt.«

Die Šrapnel-Nachbildung imitiert sie: »Ich bin beeindruckt.« Und lacht ebenfalls.

Schweigen.

In dem Würfel knistert es.

Plötzlich schaut der Pseudo- Šrapnel Dr. Perlwein an, schneidet eine Grimasse und schnurrt: »Black Box down on Grigori.« Dann kracht der Kubus auf seinen Kopf. Blaßgelbe Masse spritzt durch den Raum.

 

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»Etwas stört die Übertragung. Aber offenbar ist das Logoplasma jetzt im RAKOS-Komplex«, kommentiert der Monstrator.

Die Kamera ist Šrapnels Körper ins Kosmodrom gefolgt, und so war das Ende des Wiedergängers in der Projektion über dem runden Tisch zu sehen.

Korrektor: »Was wissen wir über diesen Kubus?«

Souffleuse: »Nichts.«

Der Monstrator schaltet den Projektor ab.

Sofort erscheint wieder das virtuelle Wesen, um das nun zwei Satelliten kreisen: die Teekanne und ein etwa gleich großer schwarzer Würfel. Das Kind trägt jetzt ein rostrotes Kleid und hat sein dunkelbraunes Haar zu einem Roßschwanz gebunden. Es bewegt den Mund, als würde es singen, und es schwingt seinen Körper, als wollte es tanzen.

 

Aus dem virtuellen Würfel dringt eine Stimme, die klingt, als schalle sie aus einem alten Radio: »Uvita und Gernmichel fliegen zum Mond. Dort werden sie im Staub eine weiße Teekanne finden. Ihr Inneres ist identisch mit ihrem Äußeren. Das Innere ist die Oberfläche, und Zukunft spielt Vergangenheit.«

Klein zu Füßen des Kindes ist Grigori Šrapnel zu sehen, wie er erst durch den schwarzen Würfel gleitet, wie er danach mit einem Fläschchen in der Hand über das Ruinengelände der RAKOS-Anlage stolpert.

 

Der Würfel-Satellit wispert: »Ein Monstrator ist in Sicherheit, solange er etwas zu zeigen hat.«

Souffleuse: »Ein Korrektor ist froh, wenn er etwas zu korrigieren hat.«

Die Kanne: »Der Würfel hat die Flüsterin entdeckt. Sie muß erfahren, was das Plasma plant.« Monstrator: »Antonina Piljus fährt nach Fein, um Hanna Logue zu treffen.«

Die Kanne: »Aber sie wird vergeblich suchen.«

Der virtuelle Grigori Šrapnel zu seinen Füßen trinkt das Fläschchen aus, auf dessen quadratisches schwarzes Etikett in winzigen Buchstaben WODKA XaXaXa gedruckt ist. Er verliert das Gleichgewicht, fällt mit dem Rücken gegen die Betonwand und gleitet zu Boden.

Eines der fünf Fäßchen neben ihm an der Wand steht schief.

 

(Name des Autors: Helmut Ploebst; 30.11.2025)