Wer hat wohl das rote Sofa auf der kleinen Sondermülldeponie im texanischen Nirgendwo abgestellt – dieses grelle, moderne Möbel, auf das zwei nackte, makellos wirkende Frauenkörper drapiert sind? Warum ein solches zeitlos edel, etwas morbide wirkendes Bild: zwei tote, rothaarige Schönheiten, einander zugewandt, sodass die Betrachter den Rücken der einen sehen, deren Leib den der anderen verdeckt? Wer hat das so geschmackvoll arrangiert? Richtig. Es war Tom Ford. Er hat das für seinen zweiten Film, Nocturnal Animals (2016), getan. Aber aus welchem Grund?
Mit diesem Bild macht der Modedesigner-Filmregisseur die drei alles andere als kunstaffin wirkenden Vergewaltiger und Mörder der beiden Frauen – Mutter und Tochter – zu Künstlern, die nach vollbrachtem Verbrechen aus ihren Opfern und dem Sofa ein abgründiges Stillleben dekorieren. Das ist zwar nur ein Detail, aber, wie sich herausstellt, die alles bestimmende Schlüsselstelle des Films: die Pfeilspitze von Fords Kritik am kommerziellen Kunstbetrieb, einer Kritik, die ohne diese Spitze wohl eher allgemein geblieben wäre.
Zunächst lässt sich aus dem roten Sofa eine extrem aufgeladene Zeichenhaftigkeit detektieren. Seine Form, Funktion und Farbe macht es zum Fetisch, der auffällig oft in Gemälden, Filmen, Talkshows und Büchern auftaucht. Schon bei Sigmund Freuds berühmter Couch dominieren Rottöne. Und der von Freud begeisterte spanische Surrealist Salvador Dalí hat 1937 aus der Form von Mae Wests Lippen ein rotes Sofa machen lassen. Irvon D. Yalom, einer der prominentesten Psychoanalytiker der USA, hat 1996 den Roman Lying on the Couch publiziert, in der deutschen Übersetzung Die rote Couch. Auch ein literarisches Beispiel aus Österreich fällt auf: Erst 2013 kam Leopold Federmairs Buch über Sexualität und Macht mit dem Titel Das rote Sofa heraus.
Blutrote „Lipstick Traces“
Blutrote „Lipstick Traces“
Zurück in die Vereinigten Staaten: In William Least Heat-Moons Fotoband The Red Couch. Portrait of America von 1984 findet sich die Melancholie wieder, die Tom Fords Stillleben ausstrahlt, darunter ebenso ein rotes Sofa auf einer Müllhalde. Moon ist bekannt als Autor des Bestsellers Blue Highways. A Journey Into America (1982). Darin erzählt der Schriftsteller von einer langen Reise durch die USA nach der Trennung von seiner ersten Frau.
Durch Fords Nocturnal Animals zieht sich das Motiv der dem roten Sofa entsprechenden Lippen von Anfang bis zum traurigen Ende. Die Protagonistin Susan Morrow (Amy Adams), eine betuchte Westküsten-Galeristin, trägt sie genauso wie ihre Kolleginnen aus dem Kunstbusiness und die Tänzerinnen in der Einleitungsperformance. Diese signalhafte Lippenbemalung kann Verstandesschärfe und Willensstärke ausstrahlen. In diesem Sinn ist sie etwa seit den 1990er Jahren auch zu einem emanzipatorischen Markenzeichen von Kunstkuratorinnen und Galeristinnen geworden.
Mit den Schattierungen der Bedeutungspalette blutroter „Lipstick Traces“ auf Schauspielergesichtern hat David Lynch gern gespielt. In Blue Velvet (1986) beispielsweise trägt ihn die Protagonistin Dorothy Vallens (Isabella Rosselini) – eine Sängerin, wie sie auch Mae West des Öfteren dargestellt hat. Bei Twin Peaks (1990/91) sind es vor allem die Figuren der Laura Palmer, Josie Packard und Audrey Horne, und bei Inland Empire (2006) fällt damit die Schauspielerin Laura Dern als Nikki Grace und Susan Blue auf.
Mit den Schattierungen der Bedeutungspalette blutroter „Lipstick Traces“ auf Schauspielergesichtern hat David Lynch gern gespielt. In Blue Velvet (1986) beispielsweise trägt ihn die Protagonistin Dorothy Vallens (Isabella Rosselini) – eine Sängerin, wie sie auch Mae West des Öfteren dargestellt hat. Bei Twin Peaks (1990/91) sind es vor allem die Figuren der Laura Palmer, Josie Packard und Audrey Horne, und bei Inland Empire (2006) fällt damit die Schauspielerin Laura Dern als Nikki Grace und Susan Blue auf.
Tanz der Falten und Wülste
Tom Ford hat seine Nocturnal Animals mit etlichen auffälligen Anspielungen auf und Zitaten aus Lynchs Werk – vor allem Lost Highway und Mulholland Drive – versehen, allerdings ohne deren alptraumhafte Struktur zu wagen. Obwohl die erwähnte Eingangssequenz etwas Ähnliches erwarten ließe. Denn sie zeigt eine an Lynch erinnernde Ausstellungseröffnung in Ms Morrows Galerie: Videos auf Großbildschirmen mit nackten Showtänzerinnen, deren Körper sich in Zeitlupe als ästhetisches Anti zu den Körpermaßen der Leichen auf dem roten Sofa behaupten. Hier feiern sich korpulente Frauen, teils in fortgeschrittenem Alter, die ihre Speckfalten, Hautlappen und Fettwülste tanzen lassen.
Vor den Screens an der Wand liegen ebendiese Tänzerinnen wie tot als Tableau-vivant-Skulpturen auf weißen Podesten, zwischen denen sich die elegante Vernissage-Society achtlos mit Sektgläsern in den Händen bewegt. Zwischen diese Szenen hat Tom Ford Luftaufnahmen von L.A. geschnitten: kalte Straßensysteme, eisiger Großstadtlichterglanz.
Zu den Kunstwerken, die später im Film auftauchen, zählen ein Jeff-Koons-Luftballon-Hund im Garten von Morrows Sichtbeton-Luxusvilla und in der Galerie Damien Hirsts Saint Sebastian, Exquisite Pain. Ähnlich spekulativ erscheint die Mehrzahl der Kunstwerke, die die Händlerin in ihren gestylten Ausstellungsräumen verhökert. Etwas differenzierter sind nur die eben beschriebene, auf Michael Hausmans Videoarbeit Gravity (2013), Federico Fellini und eine Fotoserie von Substantia Jones referierende Performance-Installation, die Ford selbst arrangiert hat, [1] oder David Misrachs Foto Desert Fire #153 (Man with Rifle).
Aggressivität der Pop Art
Alle diese Arbeiten aber, mögen sie nun von real existierenden Kunstschaffenden stammen oder bloß dazuerfunden sein, strahlen eine aggressive Ungebrochenheit aus, wie sie von der Pop Art als Überaffirmation des Konsumismus zelebriert wurde. [2] Die pointierte, oft karikierende Verherrlichung diente als Mittel zur Verarbeitung der leeren Überfülle in der so neurotischen wie gewaltsamen Kommunikation über Produkte. Spätestens in den 1980er Jahren ist der Kunstmarkt selbst in diese Marketingdynamik eingetreten. Seither wird Kunst nicht mehr als solche gehandelt, sondern als spekulativ angereichterte Marke – im doppelten Wortsinn – vertrieben.
Alle diese Arbeiten aber, mögen sie nun von real existierenden Kunstschaffenden stammen oder bloß dazuerfunden sein, strahlen eine aggressive Ungebrochenheit aus, wie sie von der Pop Art als Überaffirmation des Konsumismus zelebriert wurde. [2] Die pointierte, oft karikierende Verherrlichung diente als Mittel zur Verarbeitung der leeren Überfülle in der so neurotischen wie gewaltsamen Kommunikation über Produkte. Spätestens in den 1980er Jahren ist der Kunstmarkt selbst in diese Marketingdynamik eingetreten. Seither wird Kunst nicht mehr als solche gehandelt, sondern als spekulativ angereichterte Marke – im doppelten Wortsinn – vertrieben.
Ein weiteres Beispiel für diese Art von Kunst aus Nocturnal Animals ist das Tondo hinter dem Schreibtisch in Susan Morrows Büro: Eine postmoderne, im Stil von Ingres gemalte, odaliskenhaft auf ein Bett drapierte Aphrodite Kallipygos, [3] die den Betrachtern ihren perspektivisch ins Gigantische vergrößerten Kim-Kardashian-Hintern entgegenhält. Das Gesicht der Dargestellten erinnert sowohl an Morrow als auch an die beiden getöteten Frauen auf dem Sofa. Offensichtlich zielt Ford hier auf jene Analogie ab, die den Nukleus von Nocturnal Animals bildet: Die haifischhaften Player im konsumistischen Kunstbetrieb [4] entsprechen den drei im Film als Künstler ausgewiesenen Mördern.
Unter diesem Blickwinkel erscheinen die Tänzerinnen in den Ausstellungsvideos als Figuren einer schrillen «danse macabre» mit ihrer «nature-morte»-Entsprechung in den auf die Podeste drapierten Körpern. Ein Memento mori sozusagen für medienpornografische Stars à la Kardashian oder eben Kunstbordellmutter Susan Morrow.
Zyniker als Lustmörder
Zyniker als Lustmörder
Mit der dramatischen Handlung liefert Tom Ford vor allem die Maske für seine dem Film innewohnende These, dass Lustmörder an der Kunst und jene an den Körpern einander ähneln. Auch in scheinbar so liberalen Systemen wie der Welt der modernen Kunst und nicht bloß in totalitären politischen Systemen. Diese Annahme ist zwar nicht neu, aber sie wird nur äußerst ungern diskutiert.
Susan Morrow hat sich von ihrem romantischen Schriftsteller-Ehemann mit den Worten getrennt: „Ich bin eine Realistin.“ Mit dem idealistischen jungen Künstlertyp, der sich nicht auf Erfolg, sondern auf höhere Werte fokussiert, fühle sie sich als „Zynikerin“ zunehmend „unglücklich“. Sie lässt ein Kind von ihm abtreiben und tut sich mit einem aalglatten Business-Beau zusammen, der, wie sie sagt, „immer weiß, was zu tun ist“. Der Schauspieler Jake Gyllenhaal in seiner Doppelrolle als von der Karrieristin stehengelassener Autor Edward Sheffield und als dessen Roman-Alter-Ego Tony Hastings, der Frau und Tochter verliert, wirkt Anthony Perkins, dem Norman Bates in Alfred Hitchcocks Psycho (1960), wie aus dem Gesicht geschnitten.
Susan Morrow hat sich von ihrem romantischen Schriftsteller-Ehemann mit den Worten getrennt: „Ich bin eine Realistin.“ Mit dem idealistischen jungen Künstlertyp, der sich nicht auf Erfolg, sondern auf höhere Werte fokussiert, fühle sie sich als „Zynikerin“ zunehmend „unglücklich“. Sie lässt ein Kind von ihm abtreiben und tut sich mit einem aalglatten Business-Beau zusammen, der, wie sie sagt, „immer weiß, was zu tun ist“. Der Schauspieler Jake Gyllenhaal in seiner Doppelrolle als von der Karrieristin stehengelassener Autor Edward Sheffield und als dessen Roman-Alter-Ego Tony Hastings, der Frau und Tochter verliert, wirkt Anthony Perkins, dem Norman Bates in Alfred Hitchcocks Psycho (1960), wie aus dem Gesicht geschnitten.
In dem Buchmanuskript, das Sheffield an Morrow geschickt hat [5] und das diese fasziniert liest, schildert er die Vergewaltigung und Tötung der Frauen auf dem Sofa so, dass über eines kein Zweifel besteht: Hier werden eigentlich Susan Morrow und ihre Mutter geschändet und hingerichtet – aber nicht etwa vom rachsüchtigen Autor, sondern von ihrem zynischen Pragmatismus, aus dem sie sich selbst nicht befreien können. Wie Sheffield seine geliebte Susan diesem Pragmatismus nicht entreißen konnte, hat Familienvater Tony Hastings in Sheffields Roman keine Chance, Frau und Tochter zu retten, weil er mit der destruktiven Logik und dem teuflischen Verhalten ihrer Killer nicht umgehen kann. Die erkennen seine „Schwäche“, spielen mit ihm Katz und Maus und trennen ihn von den Frauen.
Gynophage Männerkunstwelt
Gynophage Männerkunstwelt
Hier wird das Buch-im-Film zur Parabel über zwei miteinander unvereinbare Männerwelten. In seiner Darstellung von Susan Morrow überträgt Ford diese Parabel auf eine Kunstwelt, in der ausschließlich Frauen die Täterinnen repräsentieren. Die Übertragung macht den Versuch sichtbar, zu zeigen, wie diese Frauen von diesem gynophagen Männersystem aufgefressen werden.
Sheffield beschreibt, woher dieses Kunstsystem kommt: aus einer archaisch anmutenden androphagen (patriarchalen) Tradition. In diese fällt Tony Hastings mit Hilfe eines Polizisten zurück und wird zum Rächer. Nach der Lektüre dieses Buchs glaubt Morrow, die von Ehemann Nummer zwei – dem, der „immer weiß, was zu tun ist“ – betrogen wird, sich ändern zu können. Per SMS vereinbart sie ein Treffen mit Sheffield in der Hoffnung, doch noch ehrlichen Gefühlen zu begegnen. Doch auch er hat schließlich die Seiten gewechselt, ist wie seine Romanfigur Hastings zu einem „Avenger“ geworden. Er löscht Susan symbolisch aus, indem er sie in dem noblen Restaurant, dem Ort ihrer Verabredung, sitzen lässt.
Nun wird die Ähnlichkeit zwischen Hitchcocks Norman Bates und Fords Edward Sheffield plausibel. Bates’ beherrschende Mutter erscheint als übertragen auf Susan Morrows dominante Frau Mama („Irgendwann wird jede Tochter wie ihre Mutter“), die Susans Beziehung zu Edward zu vergiften sucht. Hitchcocks männliche Figur verkleidet sich beim Töten einer jungen Frau in der Dusche als seine Mutter, und Fords weiblicher Charakter Susan schlüpft in den zynischen Pragmatismus ihrer Mutter. Sie heiratet Edward zwar, strebt aber danach, ihn zu zerstören. Hier kommt das rote Sofa ins Spiel. Auf einem solchen Möbel liegend, sucht sie ihn als Schriftsteller auszulöschen. Ford sagt dazu: „She sees that red sofa and realizes, ‘Oh, that’s the red sofa I used to lie on when I was always criticizing his work’.“ [6] Mit messerscharf stechenden Worten.
Sheffield und Hastings verwandeln sich unter dem Druck der zynische Systeme, die ihre Existenz vernichten, und glauben, in die Haut dieser Systeme schlüpfen zu müssen, um das erlittene Unrecht zu sühnen und sie am eigenen Leib spüren zu lassen, wie sich der von ihnen verursachte Schmerz anfühlt. Die Hoffnung stirbt, wenn auch zuletzt: Hastings tötet sich am Ende versehentlich selbst, und Sheffield schickt Susan bloß in jene Kälte zurück, in der sie ohnehin zu Hause war.
Fußnoten:
[1] In diesem Fall hat der Regisseur eine künsterische Arbeit inszeniert. Vgl. http://www.thewrap.com/nocturnal-animals-opening-scene-naked-plus-size-models/ (zuletzt eingesehen 31. 12. 2016)
[2] Die Pop Art wurde sicherlich bereits von Salvador Dalí initiiert, dem André Breton den Spitznamen „Avida Dollars“ (Gier nach Dollars) verlieh. Andy Warhol hat 1966 in New York ein 35-minütiges Filmportrait über Dalí und seinen Besuch in der Factory gedreht.
[3] Kallipygos: gr. für Prachthintern, vgl. Athenaios: Das Gelehrtenmahl (Orig-Titel: Deipnosophistaí). Buch XI-XV (Bibliothek der griechischen Literatur; Bd. 54). Stuttgart: Hiersemann 2001 [Buch XII], S. 554.
[4] Vgl. dazu u.a. Hanno Rauterberg: Die Kunst und das gute Leben. Über die Ethik der Ästhetik. Berlin: Suhrkamp 2015, oder Nicole Zepter: Kunst hassen. Eine entäuschte Liebe. Leipzig: Tropen 2013.
[5] Entsprechend der literarischen Grundlage für die Handlung in Fords Film, Tony & Susan (1993) des amerikanischen Autors Austin Wright, ist auch hier der Titel von Edward Sheffields Buch „Nocturnal Animals“.
[6] Zit. von http://deadline.com/2016/12/tom-ford-nocturnal-animals-amy-adams-michael-shannon-jake-gyllenhaal-oscars-interview-1201869014/ (zuletzt eingesehen 31. 12. 2016)
(Erstpublikation auf corpusweb.net 1.1.2017; Republikation auf ViS 30.11.2025)