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Postmodernes Verschwörungswissen

OHNE ERWÄHNUNG VON DYSON-SPHÄREN UND KI-ROBOTERAMEISEN (2025)

Von Helmut Ploebst

„Faszinierend“, sagt Leonard Nimoy als Spock in Star Trek manchmal, wenn sich etwas Unglaubliches ereignet hat. Es ist ein gefügeltes Wort geworden. In einem Blog schreibt jemand: „Spock und alle Vulkanier sind die perfekten Kantianer.“ [1] Wirklich? Oder sollte diese Behauptung mit Jim Parsons’ Sheldon Cooper kommentiert werden: „Träum’ weiter.“ Beinahe überflüssig, daran zu erinnern, daß Cooper ein glühender Verehrer von Spock ist. Oder war, denn die Fernsehserie Big Bang Theory wurde 2019 absichtlich beendet, und durch das so entstandene Loch in der Realität kam das Covid-19-Virus als Biowaffe über die Welt. Echt, so war es, denn die Natur ist eine kulturelle Konstruktion.

 

Im österreichischen Radio [2] weist eine Kuratorin auf unsere „Post-Truth-Era“ hin, in der „Wahrheitsansprüche auf Basis von Affekten und Überzeugungen reklamiert werden“. Mitverantwortlich dafür könnte auch die „Kultur“ einer Gesellschaft sein, wenn sie versucht, die von ihr kolonisierte Kunst „mit dem Leben“ gleichzusetzen: Dann wird alles Fiktionale tatsächlich. Wenn mir fad ist, glaube ich beispielsweise, die Erde wäre flach; und wenn ich hungrig werde, überkommt mich zunehmend die Einsicht, daß unser Planet nur hohl sein kann. So könnte Terra nostra wieder ins Zentrum unseres Sonnensystems wechseln, wo sie von der päpstlichsten aller Religionsadministrationen in Nachfolge von Platon, Aristoteles und Ptolemäus jahrhundertelang verortet wurde: Einfach, damit du dich nicht mehr so periphär fühlst.

 

Das Buch der Bücher wird oft ganz wörtlich gelesen. Wider alle wissenschaflichen Erkenntnisse glauben hundertprozentig bibeltreue „Junge-Erde-Kreationisten“ auch heute noch, die Welt wäre höchstens zehntausend Jahre alt. Andere Zeitgenossen sind kategorisch etwa davon überzeugt: Einen menschengemachten Klimawandel gibt es nicht, der Holocaust hat nie stattgefunden, Elvis (*1935) lebt immer noch, Hitler (*1889) auch, und das Universum ist eine Computersimulation [3].

 

Entleuchtung in der Zuspätmoderne

 

Wenn es darum geht, sich die Welt – sofern sie nicht Produkt einer kollektiven Einbildung ist – nach Lust und Laune respektive „Affekten und Überzeugungen“ auszumalen, sind der Phantasie kaum Grenzen gesetzt. Aus frühkulturellem Füllmaterial für Wissenslücken wie Animismus, Kult und Religion haben sich in der offenbar beweisüberdrüssig gewordenen Zuspätmoderne intellektuelle Knallgase entwickelt, mit denen zur Zeit die Fundamente evidenzbasierter Forschung in die Luft geballert werden. Über den vor allem über „Soziale Medien“ befeuerten Aufstand des Hausverstandes wider die evidenzbestimmte Forschungskultur der Aufklärung wird sehr viel und faszinierend wirkungsarm diskutiert.

 

Untrügliche Wolken am Himmel über Göß in der Steiermark: der Abend zu Halloween des Jahres 2024.                                        Foto: ploe

 

Man könnte in diesem Zusammenhang natürlich Witze über das gesellschaftliche Phänomen der Regression reißen oder eingebildet – „Post-Truth-Era“ – damit spekulieren. Unsere kulturelle Rückwärtsfahrt löst allerdings auch Besorgnis oder Empörung aus. Aber woher, zur Hölle oder gar zum „tiefen Staat“, kommt die anschwellende Begeisterung für das zeitgenössische Entleuchten des erkennenden Geistes? Dieses Phänomen bedürfte einer wissenschaftlichen Untersuchung, die etwas tiefer geht als alle bisher existierenden Stoffsammlungen. Solange solche Forschungen noch finanziert werden, sollte das wohl kein Problem sein. Schwieriger ist jedoch die Kommunikation der Ergebnisse. Der renommierte linksliberale US-Journalist George Packer stellt fest: „Die Fakten, die die Worte zusaenhielten und ihnen Bedeutung gaben, haben ihre Macht verloren.“ [4] Denn Journalisus und Wissenschaft gelten ihren digital vernetzten Widersachern als unglaubwürdige Manipulationsinstrumente einer „geheimen Elite“, deren Raketen schon 1969 nicht auf dem Mond gelandet sein sollen.

 

Adorno und Horkheimer: Selbstzerstörung der Aufklärung

 

So wie die sich häufenden Naturkatastrophen und Extremwetterereignisse sicherlich inszeniert sind. In diesen Fällen werde „auf vermeintliche, na ja, Fehler in der Darstellung hingewiesen“, sagt Josef Holnburger, Datenforscher von CeMAS, einem Berliner Thinktank zur Analyse von Antisemitismus, Rechtsextremismus und Verschwörungsideologien, und „auf sogenannte Crisis Actors, also angebliche Schauspieler, die dort Verletzte spielen würden.“ [5] Verschwörungsgläubige stellen wilde Vermutungen an: Hinter dem Klimaschutz stünden Wetterkriegstreiberei und „Todesstrahlen“, QAnon-Anhänger wähnen jüdische Weltraum-Laser als Ursache für Waldbrände, ein „Great Reset“ der Weltwirtschaft würde angezettelt. Kein Wunder, leben doch ganz offensichtlich reptilienhafte Aliens unter uns.

 

Zu den Ursachen der gegenwärtigen Verschwörungsmanie könnte einer eher unbeliebten These zufolge die postmoderne Idee vom „Ende der großen Erzählungen“ gehören. Angestellt hatte diese seit den 1980ern von zahllosen Theoretikern und Philosophen gerne übernommene Spekulation der französische Philosoph Jean-François Lyotard. Ein Berliner Essayist erklärt treffend: „Lyotard meinte damit keine literarischen Erzählformen, sondern beschrieb einen grundlegenden Glaubwürdigkeitsverlust in der Gesellschaft. Die ,Erzählungen‘, die er dabei im Auge hatte, waren die Politik und die Philosophie.“ Sie könnten keine „verbindliche ,Rationalität‘“ mehr für sich beanspruchen. Schon „Theodor W. Adorno und Max Horkheimer“ hatten, erinnert der Autor, „etwas Ähnliches angesprochen, als sie die ,Selbstzerstörung der Aufklärung‘ konstatierten”. [6]

 

Aber wer, bei allen Chemtrails und den Bärten sämtlicher Propheten, hat diesen Verlust der Anerkennung angerichtet? Die nächste unsympathische These: Es war unter anderem das „postmoderne Wissen“ selbst, als es aus den Stuhlkreisen der relativistischen Linken in die Kampfzonen einer libertären Rechten übersiedelte, die sich passende Versatzstücke daraus zum Bau ihrer Strategie der Chaotisierung und Disruption aneignete. Nicht ohne Berechtigung, wie sich herausstellte, schlug Manfred Frank vor, den „Neostrukturalismus“ mitsamt der „Dekonstruktion“ in eine gründliche Revision zu schicken, [7] und kritisierte Jürgen Habermas – wie Frank in den 1980er Jahren – die Postmoderne als einen „neuen Konservativismus“. [8] Doch da hatte Jacques Derrida den libertären Disruptoren von heute in seinem Buch De la grammatologie (1967) längst ein nutzbringendes Geschenk hingeschrieben, als er behauptete, „Rationalität“ in seiner Interpretation beginne „mit der Destruierung und […] Dekonstruktion aller Bedeutungen, deren Ursprung in der Bedeutung des Logos liegt. Das gilt besonders für (den Begriff der) Wahrheit“. [9]

 

Regression ist Fortschritt

 

Alle Zukunft steckt voll von Überraschungen. Auf Basis einer Reinterpretation dieser „Destruierung“ wurden eine Figur wie John F. Kennedy Jr. zum Gesundheitsminister der USA und ein schmierenkomödiantischer Geschäftsmann, der seine „Prominenz“ einer abgründigen TV-Show verdankt, zum Präsidenten desselben Landes. Ganz ohne Wahrheitsverpflichtung konnte auch ein geschichtsklitternder Agent vom Geheimdienst zum bellizistischen Diktator einer postsowjetischen Großmacht aufsteigen. Sind also Lyotard oder Derrida mit ihren Werken ursächlich schuld am Realitätsverlust eines beachtlichen Teils der Weltbevölkerung? Oder vielleicht eher die Massen ihrer Nachläufer aus einer postmodernisierten Akademie, die einst zwanghaft in Zitatenschäumen badeten wie angeblich Kleopatra in Honig und Eselsmilch?

 

In den letzten beiden Dezennien des 20. Jahrhunderts begaben sich jedenfalls zahllose moralisch geläuterte und aufmerksamkeitsprofitbewußte Junggelehrte auf die Suche nach einer ethisch-ästhetischen Dekonstruktionschirurgie, als es darum ging, Wahrheit als teleologische Instanz aus der Gesellschaft zu schneiden. Ihr herdenhafter Drang, sich in kritikloser Schlichtheit einem scheinbar befreienden Konzept zu unterwerfen, hat zur „progressiven“ Destruktion des demokratischen Konsens über Erkenntnis und Kritik geführt. So haben diese Postmoderneverwerter unsere Welt zu einem schlechteren Ort gemacht, an dem das Drama um Wirklichkeit und Wahrnehmung immer weitere Kreise zieht.

 

Der Wirklichkeit ist das selbstverständlich egal, abgesehen davon, daß ihre mutmaßliche Existenz auch jegliche Wahrnehmung miteinschlösse. Aber nicht allen, die nun Luftspiegelungen für handfeste Materie halten, ist ähnlicher Gleichmut gegeben. Daher werden mißliebige Beweise für Tatsachen nach Bedarf der eigenen Intention, Gefühlslage, Weltsicht oder Ideologie angepaßt, haben einige Fakultäten ihre ohnehin schon weich gewesene Wissenschaftlichkeit weitgehend zugunsten von Propagandaproduktion aufgegeben und wird Regression – Nationalismus, Identitarismus, Oligarchenwirtschaft – als Fortschritt gefeiert.

 

Faszinierend. Die geisteswissenschaftliche Akademie ist zur popkulturellen Schule des Verlernens geworden, und die kommerzielle Popkultur zu jenem Teil des industriellen Komplexes, der die Technokratie als antidemokratische Destruktionskraft so schön emotional schmiert, daß – unter anderem – ihr digitaler Kolonialismus [10] wunderbar verdrängt werden kann. Also bleiben am tragikomischen Ende die grundstürzenden Fragen, ob Asterix nicht vielleicht doch wie Cäsar eine historische Figur ist (Quelle: anonym), ob tausend Jahre Weltgeschichte pure Erfindung sind und Jesus Christus auf der Krim geboren wurde (Quelle: Anatoli Fomenko) oder, wie Johannes Fried glaubt, „als wunderwirkender Heiler durch Ägypten oder Indien wanderte“. Sie lachen, Du kicherst? Zu Recht. Denn die eigentliche Wahrheit ist, wie der „Archäologe“ Kornél Bakay eindeutig nachgewiesen hat, [11] daß der gute Erlöser ein skythischer Prinz – also letztlich Ungar – war.

 

(Originalveröffentlichung auf ViS, 30.11.2025)

Fußnoten:

  1. ^ Kai Schmidt: „Faszinierend. Die Philosophie des Mr. Spock“, (2015). In: https://medium.com/das-sonar/faszinierend-7bafb662a473 (zuletzt eingesehen 9. 11. 2025).
  2. ^ Frederike Sperling, ORF, Ö1: Kulturjournal, 20. 11. 2025.
  3. ^ Nick Bostrom: „Are you living in a computer simulation?“ In: Philosophical Quarterly. Vol. 53, No. 211, 2003, S. 243ff.
  4. ^ Zit. nach Kerstin Kohlenberg: „Kaltgestellt“. In: Die Zeit # 49, 20. 11. 2025, S. 3.
  5. ^ Nocun, Katharina: „Verschwörungserzählungen: Gefährliche Klimamythen”. In: Deutschlandfunk Kultur, 14. 4. 2023; https://www.deutschlandfunkkultur.de/gefaehrliche-klimamythen-100.html (zuletzt eingesehen: 9. 11. 2025).
  6. ^ Schreiber, Daniel: „Ich will Ich“. In: Die Zeit Online, 15. 10. 2019; https://www.zeit.de/kultur/literatur/2019-10/erzaehlperspektive-ich-schriftsteller-literatur-demokratie-glaubwuerdigkeit/komplettansicht (zuletzt eingesehen: 9. 11. 2025).
  7. ^ Vgl. Frank, Manfred: Was ist Neostrukturalismus? Suhrkamp: Frankfurt/Main 1983, S. 115.
  8. ^ Habermas, Jürgen: „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“ (1980). In: Kleine politische Schriften I-IV. Suhrkamp: Frankfurt/Main 1981, S. 444.
  9. ^ Zit. nach Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Suhrkamp: Frankfurt/Main 1988, S. 194.
  10. ^ Vgl. u.a.: Ingo Dachwitz, Sven Hilbig: Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen. C.H. Beck: München 2025.
  11. ^ Vgl. Gauß, Karl-Markus: „Jesus aß Gulasch beim letzten Abendmahl“. In: Süddeutsche Zeitung Online, 2. 5. 2019; https://www.sueddeutsche.de/wissen/gauss-kolumne-jesus-ungarn-russland-gulasch-1.4429266 (zuletzt eingesehen: 9. 11. 2025).