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Zwischen Punk und Paradies

*** DIE KONSTRUKTION VON ZUKUNFT IM ZEITGENÖSSISCHEN TANZ (2010)

Von Helmut Ploebst

Einleitung: Projektion

 

Liebe Leute, dieser Vortrag wird buchstäblich eine Vorlesung sein, denn ich lese gerne Worte von einem Blatt Papier ab, und so seid Euch bewußt, dass ich diesen Vortrag nicht halte, sondern dass ich es bin, der hoffentlich von diesem Vortrag gehalten und nicht fallengelassen wird. Ja, gehalten werden oder nicht, denn ich [...] habe keine Zukunft, sondern eine Zukunft wird mich, oder Euch, haben.

 

Ist das nicht großartig? Darüber nachzudenken, was wir nicht besitzen: eine Zukunft, ein Leben, einen Körper? All das, was wir nicht besitzen, weil es uns besitzt. Nun, natürlich wird es eine Zukunft geben, aber niemand kann ernsthaft behaupten, diese Zukunft kontrollieren zu können. Und es gibt Leben, aber leider besitzt kein Lebewesen dieses Leben, dieses biologische und dieses – menschliche, tierische und auch pflanzliche – soziale System, an dem wir teilhaben.

 

Und der Körper. Diesen vom Leben getanzten Körper hast du nicht, dieser Körper hält dich. Er projektiert „dein“ Selbst, und er erzählt dir eine Geschichte. Dieser Körper sagt dir: „Das bist du.“ Und projiziert einen lebenslangen Film, der dich spielt, in dem du ein Geist [orig. engl. „ghost“] bist und damit ein Wirt [orig. engl. „host“] für dessen Körper. Das ist ein reales Wunder, weil wir nicht als biologische Roboter verwirklicht werden, sondern als Wesen mit der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen inmitten all der sozialen Abhängigkeiten, die uns hervorbringen.

 

Was soll das – ein Tänzer, der keinen Körper hat? Spürt nicht jeder Tänzer seinen Körper? Nein, nein! Sei dir bewusst, dass dieser Körper ihn (oder sie) fühlt. Du behauptest, du tanzt, wenn du tanzt? Guter Witz. Aber die Realität ist besser: Du wirst von einem Körper in seinem sozialen System getanzt. Du wirst von dem geschaffen, was dich tanzt, wenn du tanzt, und du kannst diese phantastische Projektion spüren – und, dass diese dein Eigenes ist. Du befindest dich also permanent in diesem privilegierten Zustand, der Protagonist zu sein, die Hauptfigur jenes Films, der dich zu der einzigartigen Existenz macht, die du repräsentierst – für dich und für andere.

 

Kapitel eins: Sozjekt

 

Nun ja. Wir haben hier und jetzt noch nicht so viel getan, aber schon sind wir an einer Reihe von Abläufen beteiligt: Kommunikationsprozessen, Wissensaktivierung, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Organisation, Strategien, Ökonomie, Zeit, in rastlos bewegtem Körper fließendem Geist und Gemeinschaftsbildung [...]. Impulsübertragung und Kontextualisierung funktionieren, kulturelle Voraussetzungen und soziale Implikationen haben bewirkt, daß wir uns hier und heute in diesem „Fleischraum“ (orig. engl. „meat space“) – wie der „Newromancer“ William Gibson, der unter anderem den Begriff „Cyberspace“ geprägt hat, den Raum der physischen Präsenz von Körpern aus Fleisch und Blut zu nennen vorschlägt – treffen. Und so weiter.

 

Der „Körper aus Blut“, wie [...] Jan Fabre sagen würde, weist auf die verschiedenen organisatorischen Körperdynamiken hin, unter denen eine die Produktion und Zirkulation des Blutes in jedem Körper ist. Der Tanz hat im Lauf des 20. Jahrhunderts ein wildes Wissensgeflecht entwickelt, das ich als „angewandte Systemtheorie des Körpers“ bezeichnen möchte. Alle möglichen Techniken, von den Yogas bis zu den Kampfkünsten, von verschiedenen spezifischen Tanzmethoden bis zu Feldenkrais, Pilates, BMC, Alexander-Technik und so weiter, werden für die ästhetische Arbeit weiterentwickelt, wurden aber bisher aus gutem Grund, nämlich dem Mangel an theoretischen Ansätzen, noch nicht gründlich erforscht und erschöpfend theoretisiert.

 

Die Einflüsse dieses Strategiekomplexes bei der Erforschung körperlicher Systeme auf die Diskurse der Repräsentation werden schon bald zum Tragen kommen. Im Bereich der Kunst sind bereits verschiedene Versuche zu beobachten. Beispielsweise, wenn eine konzeptuelle Choreografin wie Alice Chauchat ein Breast Piece [2007, zusammen mit Frédéric Gies] entwickelt, bei dem BMC als Konstruktionsinstrument im Vordergrund steht. Dies ist ein deutlicher Unterschied zu den konzeptuellen Strategien der 1990er Jahre, und inmitten des postkonzeptuellen „Movemental Turn“, der sich heute [2010] in der zeitgenössischen Choreografie vollzieht, entsteht eine große Chance für eine Systemtheorie, die sich auf die Beziehungen zwischen physischen Prozessen und der Dynamik von Handlungen unter dem Blickwinkel von Körperideologien in den Bereichen Ästhetik und Soziologie konzentriert.

 

Körperideologien und ihre repräsentativen Implikationen üben gegenwärtig und künftig wachsenden Einfluß auf die Konstruktion eines kontrollierten Körpers der Effizienz aus. Ein totalitäres Körperkontrollregime entsteht – durch die zunehmende Macht von Versicherungsgesellschaften, paternalistische Gesundheitspolitik, den korrumpierenden Rückgang des Arbeitsmarktes auch infolge der [aktuellen] Finanzkrise, eine disziplinierende Lebensverlängerungs-Ideologie mit standardisierter Fitneß, die Verbindung von ständiger Demütigung und permanenter Unterhaltung – und vor allem durch eine immer durchsichtiger werdende Existenz in unserer Informationsgesellschaft.

 

Dies prägt bereits jetzt das Kunstschaffen in auffälliger Weise. Jeder [...] Körper, der die Luft in diesem Raum atmet, ist ein großes Orchester aus Systemen, die bei der Konstruktion eines lebenden Menschen zusammenwirken. Dieses Orchester wird, wie wir wissen, noch überhaupt nicht verstanden, aber schon permanent ausgebeutet, und es wird das Hauptziel einer Vielzahl politischer und wirtschaftlicher Kriege darstellen, die religiöse Körperkontrollregime wie den Islam oder den Katholizismus unterstützen oder teilweise auch ersetzen.

 

Vor diesem Hintergrund ist es gut, sich einem anderen, optimistischen Diskursbereich zuzuwenden. Optimistisch, weil dieser Bereich von der Idee geprägt ist, daß alles, was bisher in diesem Vortrag gesagt wurde, viel potentielles Material enthält, das mit Hilfe möglicher Strategien des sogenannten „Kunstschaffens“, die wir entweder bereits kennen oder künftig entwickeln könnten, produktiv genutzt werden kann.

 

Wir alle sind permanent und unausweichlich in Prozesse vorbereitenden Kunstschaffens involviert. Jede Art zu leben produziert Material oder Modelle für künstlerische Formulierungen. Ob wir wollen oder nicht, wir arbeiten ständig an gegenwärtigen und scheinbar bevorstehenden Umständen, unter denen die Kunst ihre verschiedenen Systeme baut. Die Vorbereitung des Bodens und der Bereiche für Kunstwerke kann als konstitutiver – sein Wesen bedingender – Teil des Kunstschaffens selbst verstanden werden. Das Verständnis dessen, was Kunstschaffen sein kann, steht immer in Zusammenhang mit komplexen Verträgen, die die wichtigsten Strukturen für jeden Diskurs über Kunst hervorbringen, wo und wann auch immer innerhalb jener Kulturräume, in denen wir versammelt sind. Kunst ist eine Frage der Legitimation, die sich ständig verändert und zu jeder Zeit in jedem Kontext auf dem Spiel steht.

 

Es hat keinen Sinn, sich nicht permanent mit der Konstruktion dieser Verträge auseinanderzusetzen, denn wenn wir dies nicht tun, wäre keiner von uns in der Lage, an Praktiken und Theorien der Bedingtheit innerhalb dieser Konstruktion zu arbeiten, hier der Beziehungshaftigkeit von Konsensmodellen einschließlich jener Definitionen und Gesetzen, die unser Verständnis davon organisieren, [...] was als „Kunst“ bezeichnet wird und was wahrscheinlich nicht. Diese Konsensmodelle wandeln sich unter dem Einfluß von Zeit und Kontext, von Politik und Wirtschaft, und sie sind wie jede Gestaltung und Neugestaltung von Gesellschaftsverträgen von hoher politischer Bedeutung.

 

Auf jeden Fall ist es sinnvoll, in diesem Zusammenhang (nochmals) über die Zukunft zu sprechen, denn selbst die Situation hier beweist, daß es so etwas wie „die Zukunft“ gibt. Andernfalls hätte dieses Festival [1] nicht bis jetzt stattgefunden – und wir alle haben das antizipiert, weil wir uns in eine „Zukunft“ hineinversetzten. Diese Erwartung entspringt unserer Erfahrung der Projektion, die die Gegenwart als relativ zum Zeitstrom definiert, einem Fluß, den wir uns als progressiv und nicht als statisch oder rezessiv oder sich wiederholend, verschiebend oder springend vorstellen.

 

Obwohl unsere „erlebte Zeit“ all diese Phänomene vermischt, haben wir akzeptiert, in einer pro-rezessiven und sich verschiebenden-springenden Zeitschleife innerhalb einer „sozjektiven“ Struktur von Persönlichkeiten in der sich selbst organisierenden Gegenwart zu leben, die wir auch als Konstruktion unseres Wahrnehmungssystems beschreiben könnten, dieses schönen und rätselhaften neuronalen Apparats, der uns das Gefühl gibt, hier zu sein und Identitäten zu repräsentieren.

 

Ich habe die Begriffe „schön“ und „rätselhaft“ verwendet, um einige in der Regel gut funktionierende, positive ästhetische Mittel der Emotionalisierung im Gegensatz zu der strikten Aussage darüber anzuführen, was unter dem sogenannten „Subjekt“ zu verstehen ist. Einem Konzept, das unsere Gesellschaft heutzutage angeblich aufzugeben bereit ist (und gleichzeitig zu bewahren versucht), und das ich [...] durch das Konzept des „Sozjektivismus“ ersetzen möchte, indem ich argumentiere, daß das „Subjekt“ gar nicht vorstellbar wäre ohne seine sozialen Implikationen und Umweltbezüge. Diese sind innerhalb unseres Wahrnehmungssystems so intensiv miteinander verbunden, daß es sinnvoll zu sein scheint, einen Schritt weiter zu gehen und uns den Begriff „sozjektiv“ anzutrainieren, um uns neu als Wesen zu positionieren, die die Konstruktion ihres Selbst-innerhalb-Anderer als ein großes Geschenk der Evolution erleben.

 

All dies ist weiteres Material, mit dem man arbeiten kann, und es wird in der Kunst bereits als reflexionsbasierte Praxis eingesetzt. Was wir hier gemeinsam vollbringen, ist übrigens weniger „Theorie“ als vielmehr „Praxis“. Theorie in ihrem folkloristischen Sinn kann die Distanz der Reflexion durch Beobachtung bedeuten. Das ist jedoch so lächerlich wie jede Vereinfachung und eine nicht einmal elegante, sondern eher plumpe Banalisierung dessen, wie sexy Theorie als Praxis sein kann! Vor allem, wenn man Theorie als Praxis einer „Praxis”, als Handeln erlebt, beispielsweise in einem [...] Tanzstück, das ja nichts anderes sein kann als ein praktisches Unterfangen, das eine theoretische Konstruktion darstellt, die von Körpern des Denkens und Handelns aufgeführt wird.

 

Ganz zu schweigen vom Akt der Wahrnehmung selbst, bei dem jedes Sozjekt in einem Feuerwerk theoriebasierter Kommunikationsdynamiken aktiv ist. Die kartesisch-metaphorische Zerlegung von Theorie und Praxis hingegen bietet, solange die Sprache dies noch vorschlägt, eine schöne Matrix des Diskurses, in der wir uns bewegen können, indem wir auf den Wellen der Übereinstimmung und Uneinigkeit surfen, die ideologische Dynamiken repräsentieren, wie sie in jedem lebenden Sozjekt aktiv sind.

 

Kapitel zwei: Punkture

 

Mit diesem Material wollen wir nun ein wenig in die Black Box vordringen, die ich sowohl als Metapher als auch als Idee von einem Raum, in dem sich ein Kunstwerk entfalten kann, sehr schätze, um mehr über die „dunkle Materie“ zu erfahren, aus welcher jene Performance in der Kunst besteht, die in ihrem öffentlichen Aufscheinen tatsächlich den vier Prozent der für uns wahrnehmbaren Materie im Universum ähnelt.

 

Dieser Schritt inspiriert die Umwandlung des Begriffs „Blaxploitation“ (ein Filmgenre aus den frühen 1970er Jahren, das die Begriffe „black“ und „exploitation“ kombiniert, wobei letzterer hier in der Bedeutung von „sich etwas zunutze machen“ verwendet wird) [2] in einen Topos, der es uns ermöglicht, eine Position der Übernahme einzunehmen und eine Praxis mit oder ohne Zustimmung ihrer Eigentümer auszuschöpfen. Mit einer solchen Übertragung soll im Sinn eines Akts der Selbstermächtigung gespielt werden, indem der Begriff „Black Power“ in respektvoller Entführung umkartiert [orig. engl. „kid-mapping“] wird, um an einen Bereich zu kommen, den wir normalerweise nur zögernd als „dunkel“ bezeichnen. Diesen Bereich möchte ich als „Punkture“ [dt. „Punktion“] bezeichnen, als Verschmelzung von „Punk“ und „Future“, die ein klares Nein zu jeder naiven und bourgeoisen Vorstellung von „Zukunft“ in ihrer kulturellen Einschreibung enthält.

 

Ein Punk ist „schwarz“ auf der Ebene der Diskurse der Ausgrenzung: Das Wort wird übersetzt mit „verrottetes Holz“ (Hallo, Sex Pistol Johnny Rotten!) und bezeichnet einen Anfänger, einen Verlierer, einen Prostituierten. „Punktieren“ bedeutet, ein kleines Loch in etwas zu machen, in unserer Lesart hier ein „schwarzes Löchlein“ in die Systeme von Macht und Kontrolle. Der Künstler – als Anfänger, Verlierer, Prostituierter, Punk – kann durch Akte der „Blaxploitation“ dazu einladen, einen „Ereignishorizont“ (in der Astronomie jener Bereich, an dem es kein Zurück mehr gibt, bevor man von einem Schwarzen Loch verschluckt wird) zu überschreiten, im Gegensatz zur Logik des „perform or else...“, mit deren Darstellung Jon McKenzie [3] die Prinzipien der Unterdrückung in wirtschaftlichen, technologischen und kulturellen Gesellschaften beschreibt.

 

Dies ist das feine Punk-Modell für die Auflösung dessen, was wir uns unter einer bürgerlichen „Zukunft“ vorstellen könnten. In einer „Punkture“ entsteht das Versprechen, dass die Sozjekte ausnutzen können, was eine Gemeinschaft zusammenhält, wie Michel Foucault es in Überwachen und Strafen kritisiert, einschließlich jener Teile des Kunstbereichs, die von kapitalistischen, sentimentalistischen, definitorischen und moralistischen Regimes so ausgebeutet und missbraucht werden, daß der White Cube und die Black Box sich in den Kriegen der Diskurse auf den Schlachtfeldern der Kunstideologien in Gefängnisse verwandeln.

 

Unsere „Punkture“ ist das Modell des Prozessuellen und nicht das Modell des Objekts. Jedes Objekt ist ein Prozeß, wird jedoch als statisches Ding verstanden, wie es das menschliche Wahrnehmungssystem vorgibt. Der Prozeß ist also nicht offensichtlich, wenn wir diesen gewöhnlichen Pflasterstein hier auf dem Tisch [4] betrachten. Aber natürlich ist dieser Stein in Bewegung: Je nach seiner Temperatur schwingen seine Atome mehr oder weniger stark in ihrem Gitter aus elektromagnetischen Kräften. Und wie wir wissen, befinden sich die Atome selbst in einer ständigen Bewegung der Selbststabilisierung. Wir können daher sagen, daß dieser Stein ein Tänzer ist. Das ist seine kulturelle „Punktion“.

 

Punkture – wie ein weißer Pflasterstein tanzt                                                                                                              © Helmut Ploebst (2025)

 

Als Tänzer perforiert der Stein die Idee des phänomenologischen Choreozentrismus im Tanz, der eine Folge monoperspektivischer theoretischer Modelle in Bezug auf Kunst ist. Als der belgische Theoretiker Rudi Laermans vor zwei Jahren in einem Vortrag [Tanzquartier Wien, 2008] das Ende des Anthropozentrismus im Tanz verkündete, [5] folgte er damit einer Tendenz, die bereits seit langem durch die Sprache vorformatiert ist, aber von dem langsamen und trägen Konsenssystem, das, wie erwähnt, die Verträge der Kunst schreibt, noch nicht ausreichend anerkannt wird. Das Ergebnis in einem Beispiel: Man kann stundenlang auf den schwingenden Atomen eines Steins sitzen wie auf einem Orchester aus Prozessen und den Tanz des Sonnenlichts auf der Meeresoberfläche beobachten, ohne sich des multidimensionalen choreografischen Universums um und in sich bewußt zu sein. Aber genau dieses Universum stellt die punkturistischen Quellen für den Tanz als Kunstform dar.

 

Was auch immer außerhalb des Mediums Kunst geschieht, wird für Künstler heutzutage ohnehin immer attraktiver: Denn das Soziale ist das Natur der Gegenwart. Wenn wir also diesen gewöhnlichen Pflasterstein hier auf dem Tisch im Licht betrachten und untersuchen, beschränken wir uns nicht mehr darauf, nur zu fragen, ob er schön ist oder nicht oder ob er einer Kartoffel ähnelt oder nicht, sondern betrachten das Bild als solches im Prozeß seiner Auflösung in verschiedenen Diskurs-Ebenen. Das ist nun wirklich seit Ewigkeiten ein Element der theoretischen Praxis! Aber nie zuvor war es so offensichtlich wie in der Gegenwart, daß der Prozeß der Lektüre ein Ereignis konstituiert, und viel weniger das Objekt selbst, das Medium als „Projektor“, dessen Bild gelesen wird. Kunst ist tatsächlich bestens geeignet, zu verdeutlichen, was das bedeutet. Denn jedes Kunstwerk ist die Übersetzung einer Lesart von etwas Wahrnehmbarem. In jenem Moment, in dem akzeptiert wird, daß der Künstler ein produktiver Leser – sozusagen ein Nutzer im Sinne von Michel de Certeau – dessen ist, was unsere Umwelt konstituiert, verschieben die Lektüre der Lesart des Künstlers und die Lektüre der Umwelt durch eine künstlerische Lesart den Begriff des Künstlerischen selbst.

 

Die Konsequenz dieser Idee, die nicht nur von de Certeau, sondern auch von Roland Barthes und jüngst von Jacques Rancière unterstützt wird, ist eine doppelte: 1. Im sozialen und damit politischen Bereich bedeutet dies, daß der Künstler andere Strategien und Tricks zur Entschlüsselung der Prozesse anbietet als jene Akteure, die an Kommunikationssystemen beteiligt sind, die dieses Umfeld erzeugen. Und 2. war es de Certeau, der vor 25 Jahren in seinem Buch Die Kunst des Handelns (Arts de faire[6] dafür plädierte, die hochgradige Aktivität des sogenannten passiven Konsumenten nicht zu unterschätzen, dessen „Passivität“ nur eine Einbildung jener ist, die darauf abzielen, möglichst viele Sozjekte ihrer verschiedenen Zielgruppen – mit Blick auf ihre unterschiedlichen Intentionen, sie zu „disziplinieren und zu bestrafen“ – zu manipulieren. Der Künstler und Performer Jan Ritsema sagte vor nicht allzulanger Zeit in einem Vortrag: „Im Publikum steckt mehr Intelligenz als in den Künstlern.“ Was er kritisiert (und dem kann ich mich leicht anschließen) ist, dass sich die Künstler als Leser nur darauf beschränken, etwas „auszudrücken“ – ihren privaten Mist: In diesem Fall wird der Künstler tatsächlich, wie Ritsema meinte, zu einem „Idioten“: Als narzißtischer Performer der Mission, die Leser als Voyeure seiner spektakulären Ode an das „Eigene“ zu „betäuben“.

 

„Arts de faire“, betitelt de Certeau in seinem – wie ich hier behaupten würde – Essay über Extramedialität, weil der Nutzer immer noch in das System der Kunstproduktion integriert werden muß. Als guter Leser ebenso wie als schlechter Leser und als Publikum, das eine Schwarmintelligenz oder eine Schwarmdummheit bildet. Im Tanz hat die Betäubung des Publikums eine große Tradition, ebenso wie das – metaphorisch gesprochen – Küssen der eigenen Körperteile in einer choreozentrischen Haltung von Bankrotteuren in und Zerstörern an ihrer Kunstform, was durch eine Armada gieriger Produzenten, Moderatoren und Autoren bestätigt wird, die einem Konzept von Kunst folgen, das ihrem Geschmack unterworfen ist und Kunst zu einem Objekt im Dienst einer Gesellschaft der Kontrolle und Effizienz, Disziplin und Bestrafung macht. Dies gestaltet den Kunstbereich zu einem medialen Komplex, der sich überaus herausfordernd und feindselig gegenüber dem Schaffen von Kunst verhält.

 

Und wie wir festgestellt haben, liegt die „Punkture“ des Tanzes außerhalb dieses medialen Komplexes, der nur darauf wartet, von den Out-Insidern des Fachgebiets „blaxploited“ zu werden. Die bereits existierenden Praktiken der choreografischen Blaxploitation sind in den produktiven Lesarten zahlreicher Künstler unserer Gegenwart zu analysieren. Ich wette, dass die Künstler in Punkture noch weiter aus dem Medium herausgehen werden, indem sie die attraktivsten und bösartigsten logischen Systeme des Spektakels, der Unterhaltungsindustrie und der katastrophalen Kirchen der Kunst, die dem Geschmack der Vertreter und Verwalter der repräsentativen Kultur gefallen soll, hacken und blaxploiten.

 

Das klingt sehr nach den 1970ern, bitte verzeihen Sie mir das! Aber was sollen wir sagen, wenn wir über die Zukunft, nein, über die Punkture, des Kunstschaffens in Zeiten des Casino-Kapitalismus nachdenken, der eine Form des Kriegs gegen uns alle ist – was können wir anderes tun, als zu versuchen, die Logik des „Empire“ zu revolutionieren, wie Michael Hardt und Antonio Negri ein globales System nennen, das sich heute so radikal gegen die Menschheit wendet?

 

Das Spektakel – wie Guy Debord dieses Empire vor rund dreißig Jahren nannte – probt alles, was passieren wird, weil ihm alles egal ist, solange das Spiel weitergehen kann. Man könnte sagen, daß es sich dabei um ein sich selbst organisierendes System von Prozessen handelt, das einem logischen System folgt, welches mit vereinfachenden Analysemethoden nicht entschlüsselt werden kann. Man muss sehr spezifische Werkzeuge der „Anti“-Logik finden, um diese Choreografien überhaupt beobachten zu können und folglich praktikable Gegenstrategien zu finden.

 

Die Auditorien, so können wir schlußfolgern, sind globale Akteure durch ihre Entscheidungen, bei der Ereignismaschine des Spektakels anwesend zu sein oder ihr fernzubleiben, und durch die Bildung von Investitions- oder Boykott-Schwärmen, die aktiv werden oder zögern, die unter bestimmten, kaum antizipierbaren Voraussetzungen versammelt werden können oder auch nicht. Zwei Systeme tanzen untrennbar miteinander: das Spektakel und seine Zuschauer, die Global Player und die konsumierenden Spekulanten, die sich gemeinsam in den transkulturellen Räumen des Risikos und der Spannung bewegen, und die sozialen Räume, die vom Spektakel entworfen und durch die Schwärme von „Specta(cla)tors” (dem Publikum) auf der Ebene von Politik, Wirtschaft, Technologie, Unterhaltung und Ideologie bestätigt oder abgelehnt werden.

 

Es wäre ein fataler Fehler, zu glauben, daß irgendein Performance-System der Kunst außerhalb des weltweiten Netzes des Spektakels tatsächlich funktionieren und von irgendjemandem wahrgenommen werden könnte. Und gleichzeitig wäre es ein noch fatalerer Fehler zu glauben, dass es keinen Sinn macht, überhaupt zu versuchen, außerhalb des Spektakels zu arbeiten, in der Absicht, einen Raum der Andersartigkeit zu schaffen. Das Spektakel selbst ist ein Beobachtungssystem, das jeden Aspekt dessen, was wir als kulturelle Produktion bezeichnen, ausnutzt, und jedes Vertriebssystem der Kunst ist heutzutage mehr und mehr gezwungen, der Logik des Spektakels zu folgen. In dieser Hinsicht sind die staatlichen Kulturverwaltungen auf dem besten Weg, dem Spektakel perfekt zu dienen.

 

Kapitel drei: Fortschritt

 

Als Schlussfolgerung möchte ich eine Liste mit 25 Bedingungen für den zeitgenössischen Tanz vorschlagen, die diskutiert werden könnten, um eine echte Integration dieser Kunstform in den kommenden Jahren des Niedergangs und/oder der Fixierung des Empire, des Spektakels oder der Kasinokultur zu erreichen.

 

(1) Kunst ist und bleibt nur dann relevant, wenn sie ein politisches Potential zur Kritik an Konservatismus, Kapitalismus, Moralismus, Fundamentalismus, Ausbeutung, Korruption, Totalitarismus, Unterdrückung, Rassismus, Bigotterie, Ignoranz, Kolonialismus, Homophobie, Zynismus und Elitismus enthält.
(2) Diese Relevanz drückt sich gleichermaßen im Inhalt, und in der Form, und in der Qualität von Kunstwerken aus (ein Kunstwerk mit progressivem Inhalt, das in einer konservativen Sprache und/oder von geringer Qualität vermittelt wird, ist reine Anmaßung). Und ja, Qualität kann definiert werden (auch eine als „schlecht“ angesehene Performance kann von ausgezeichneter Qualität sein).
(3) Die Wahrnehmung, die Interpretation und die Konstruktion von Diskursen sind so bedeutend wie die das Schaffen eines Kunstwerks. Diese zunehmende Verantwortung des Publikums ist eine große Unterstützung für Künstlerinnen und Künstler. Denn es wird als entscheidend angesehen, daß eine für „schlecht“ angesehene Aufführung einer Performance noch nichts über ihren künstlerischen Wert aussagt.
(4) Im progressiven Tanz wird die Rolle des Kurators, des Organisators und des Präsentators noch wichtiger sein als in der Vergangenheit. Ohne innovatives Kuratieren gibt es keine innovativen Kunstwerke. Das bedeutet, daß sich die Qualität der Kuratoren weiterentwickeln wird oder daß weniger relevante Kunstwerke veröffentlicht werden.
(5) Das Gleiche gilt für Kritiker, Theoretiker, Forscher und andere Diskursgestalter. Wenn Kunst nicht angemessen reflektiert wird, kann sie nicht richtig vermittelt und kontextualisiert werden. Im Tanzbereich besteht nach wie vor ein großer Bedarf an zukunftsorientierten, starken Autoren mit hohem Potenzial und der Fähigkeit, ohne elitäre Haltung zu arbeiten.
(6) Künstler, Veranstalter und Diskursgestalter müssen bessere Strategien für die Kommunikation mit Kulturpolitikern finden, die in ihrer Funktion meist einen pragmatischen und konservativen, schlicht pluralistischen oder populistischen Ansatz verfolgen.
(7) Mehr denn je anerkannt, aber schwer zu entwickeln ist der Bereich der Tanzpädagogik. Eine progressive Pädagogik fördert nicht unbedingt den „Output“ innovativer Künstler. Im Jahr 2010 stehen wir erst am Anfang der Suche nach den Voraussetzungen für die Entwicklung eines zeitgemäßen Unterrichts. Weder radikale Disziplinlosigkeit noch strenge Anleitung sind eine Garantie für einen „idealen“ Austausch zwischen Pädagoginnen und Lehrern.
(8) Das ist jetzt eine schwierige Sache: In einem permissiven Umfeld gibt es keine progressive Kunst. Aber da wir uns nicht mehr in den 1960er Jahren befinden, gibt es kein klar erkennbares restriktives oder permissives Umfeld mehr. Es gibt nur noch eine vage, ambivalente und heterogene Angst vor Problemen. Heute befinden sich alle Gesellschaften auf dem Planeten in einer schweren Krise. Aber die Komplexität und Widersprüchlichkeit dieser Gesellschaften machen es schwierig, sich zu orientieren und im Widerstand zu vereinen. Das könnte sich von nun an ändern.
(9) Kompromisse, Mittelmäßigkeit und Pseudopluralismus sind die schwächenden Faktoren jeder politischen Opposition. Aber es wird keine Rückkehr zu den 1960er und 1970er Jahren geben. Im Gegenteil. Ein großer Teil der heutigen Jugend neigt zum Spektakulären und damit zu konservativen Werten. Dies gibt der Minderheit einen großen Handlungsspielraum. Die nächste revolutionäre Bewegung könnte etwas weniger simpel sein als die der 60er/70er Jahre.
(10) Ebenfalls unangenehm: Es wird immer einen Bedarf an Avantgarden geben, auch wenn sie gelegentlich als „anti-avantgardistisch“ erscheinen. Es stimmt, daß derzeit eine Ablehnung altmodischer avantgardistischer Haltungen zu beobachten ist. Aber gleichzeitig wird diese Medizin nach wie vor dringend benötigt.
(11) Sprechen wir dabei von Choreografie oder von Tanz? Wenn wir von Choreografie sprechen, dann nicht unbedingt auch von Tanz – denn es gibt bereits Choreografie ohne Tanz (und umgekehrt). William Forsythe sagt: „Choreografie ist die Organisation von Dingen in der Zeit.“ Choreografie hat ein hohes transmediales Potenzial, das heißt: In jeder existierenden Kunstform lassen sich Strategien der Choreografie finden oder einfügen. Das kann zu choreografischen Praktiken in den Bereichen Bildende Kunst, Film, Musik, Literatur, Architektur und Medienkunst neben Performance und Tanz anregen.
(12) Bereits jetzt und ganz langsam lösen sich die totalitären Beschränkungen in den Definitionen und Wertekatalogen auf, die im Tanzdiskurs noch immer als relevant gelten.
(13) Die Hegemonie des gut trainierten, jungen, zierlich geformten und tugendhaften Körpers von Tänzern hat es geschafft und wird es auch weiterhin schaffen, den Tanz auf eine Maschine zu reduzieren, die repräsentative Stereotypen produziert und – als Monopol – die Körperdiskurse in den zeitgenössischen Kulturen verfehlt. Weder naive Aufklärungstendenzen der politischen Korrektheit noch das Beharren auf leeren Figuren des eleganten Elitismus werden die Kavernen der schützenden Ideologie im Tanz öffnen.
(14) Der Körper ist ein unruhiges, erotisches, intelligentes, politisches und stark gefährdetes Phänomen. In politischer Hinsicht muß er vom Tanz wieder mehr gepflegt werden. Er wird auf verschiedene Weise trainiert, umgeschrieben, manchmal auch zurückgenommen. Denn in den kommenden Zeiten eines „Expanded Dance“ wird es viele Ergänzungen zur tanzenden menschlichen Figur geben.
(15) Bereits 1917 wurde im Teatro Costanzi ein Stück von Giacomo Balla mit tanzenden geometrischen Objekten aufgeführt: Feu d’artifice. Die Künstler und Filmemacher Hans Richter, Viking Eggeling und Werner Ruttmann arbeiteten ab Anfang der 1920er Jahre in ihren Experimentalfilmen mit tanzenden abstrakten Formen. „Expanded Dance“ findet in jedem prozessualen künstlerischen Medium statt und wird Schritt für Schritt von Künstlern und Kunstdiskursproduzenten anerkannt.
(16) Diese Entwicklung könnte dazu führen, daß Tanz tatsächlich zu einer genreübergreifenden Kunstform wird, im Gegensatz zum Tanz als kleinerem Anhang von Oper oder Theater, wie es zu Zeiten der Ballett-Hegemonie der Fall war.
(17) Die Geschichte des Tanzes wird nur zu einem kleinen Teil durch die traditionelle Tanzgeschichte repräsentiert. Die Entwicklung des Tanzes ist mit anderen Geschichten verflochten, wie denen des Körpers, der Bildenden Künste, des Theaters, der Rituale, der Musik, der Medien, des Films, der Mode und der Performance sowie der Kulturgeschichte.
(18) Tanzkulturen liefern unterschiedliche Antworten auf einen definierten Fragenkomplex. Formen der Zeitgenossenschaft könnten und werden wahrscheinlich auch aus koreanischen, japanischen, chinesischen, kambodschanischen, indischen oder thailändischen Tanzformen entwickelt werden.
(19) Neue Techniken des Tanzens und des Denkens über Tanz könnten entwickelt, trainiert und gelehrt werden, wenn die alte Tanzmaschine in ihrer Dysfunktionalität möglicherweise durch ein offenes System des Schaffens ersetzt wird.
(20) Kontexte des Tanzes finden sich in Sprache, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Unterhaltung, Sport und Technologie: nicht als „inspirierendes” Material, sondern als Feld, um Kunst in das reale Leben zu exportieren.
(21) Kunst ist keine Utopie. Aber Kunst sollte weiter an der Idee arbeiten, eine bessere Welt vorzuschlagen.
(22) Tanz als Kunstform sollte hell (erkundend, streng und radikal) sein, aber auch dunkel (sexy, unterhaltsam, virtuos, übermütig, atemberaubend, wunderbar, prächtig, elegant, rhythmisch, ekstatisch, überwältigend, romantisch, rätselhaft und populär). Er kann ein ambivalenter und schmutziger Heiliger sein.
(23) Tänzerinnen und Tänzer werden sich emanzipieren und gemeinsam mit ihren Choreografinnen und Choreografen die volle Verantwortung für ein Werk übernehmen.
(24) Der absolute Anthropozentrismus in Tanz und Choreografie ist überholt. Alles kann tanzen. Und jeder Künstler kann – gute oder schlechte – Choreografien mit einer Vielzahl von Materialien erstellen.
(25) Die Zukunft des Tanzes hängt von Euch ab!

 

(Übersetzung und Bearbeitung des ursprünglich englischen Vortragstexts: Helmut Ploebst, 30.11.2025 [0])

Fußnoten:

  1. ^ Burgenländische Tanztage, Oberwart, 7. bis 9. Mai 2010; der Vortrag fand auf Einladung von Liz King am 8. Mai im Offenen Haus Oberwart (OHO) statt.
  2. ^ Vgl. u.a. Darius H. James: That’s blaxploitation! Roots of the Baadasssss ’Tude. St. Martin’s Griffin: New York 1995.
  3. ^ Vgl. Jon McKenzie: Perform or else. From Discipline to Performance. London / New York: Routledge 2001.
  4. ^ Demonstrationsobjekt während des Vortrags.
  5. ^ Martina Ruhsam: Moving Matter. Nicht-menschliche Körper in zeitgenössischen Choreografien. Transcript: Bielefeld 2021, S. 15 f.
  6. ^ Michel de Certeau: L’Invention du Quotidien. Vol. 1, Arts de Faire. Paris: Editions Gallimard 1980. Deutsche Ausgabe: Kunst des Handelns. Merve: Berlin 1988.