Wenn ich an meinem 65. Geburtstag im Jahr 2026 meine Lebensspanne von 1961 subtrahiere, habe die Zahl 1896 vor Augen. In diesem Jahr kamen Dsiga Wertow und André Breton zur Welt. Ich bin kein Zahlenmystiker, also erkenne ich in diesem Zufall keinen Einfluß auf mein Leben. Biografische Angaben können die Namen der Mutter und des Vaters oder auch der Großeltern enthalten. Auch die Orte der Geburt und des Heranwachsens werden gern angegeben. Derlei autofaktische Daten sorgen meist für Befriedigung beim Nachlesen.
Möglicherweise ebenso interessant wäre eine Liste meiner Kinderkrankheiten. Ich hatte einige, an die ich mich sehr gut erinnere: von Angina und Masern über Mumps bis zu Diphterie. Die Schmerzen, Halluzinationen im Fieber, das Gepflegtwerden, ein Aufenthalt im Spital. Liebevolle Mutter, tyrannischer Vater. Volksschule in Göß und in Leitendorf. Ein anfälliges Kind, das gerne zeichnet und viel liest.
Gymnasium Moserhofstraße in Leoben. 1976: erste längere USA-Reise, gefolgt von Chaos in der Familie. Bücher und Bilder als Schleusen ins Denkmögliche: Kafka, der bis 1896 im Prager Haus zur Minute wohnte. Übersiedlung nach Villach, Surrealismus, Nietzsche, ein wenig Schopenhauer. 1979 Matura und dann ab nach Wien mit der prägenden Lebensentdeckung: Kunst als kritische Perspektivierung der Wirklichkeit.
Kunsthochschule? Nein. Statt dessen die als überflüssig geltenden Studienrichtungen Kunstgeschichte und Kommunikationswissenschaft. Studentenleben? Ja. Die Eighties, ein wilder und witziger Aufbruch in den Neoliberalismus. Ich bin skeptisch. Studentenjob: Auslagendekorateur. Erster publizierter Artikel 1986, Promotion im Wendejahr 1989. Danach gebe ich den Plan einer Laufbahn als bildender Künstler auf.
Literatur wird zur zweiten Praxis. Beinahe wäre 1994 mein erstes Manuskript gedruckt worden. Aber nur zur Hälfte, sagte der Verlag. Nein danke. Also Plan C: Journalismus wird zum Beruf – für eine Zeitschrift, für eine Tageszeitung, ab 1996 als freiberufliches Abenteuer. Kritik ist meine Leidenschaft, immer schon, auch als Kind und Schüler. Mein Mundwerk findet zu veröffentlichtem Papier, die Kritik gilt noch als Kunstform. Das Zehnfingersystem für die Tastatur lerne ich nie.
Auf die Zeitverschwendung mit einem „Beruf“ hätte ich gerne verzichtet. Mein Zugeständnis an die Lebenswirklichkeit war Schreiben, um zu überleben: am liebsten über Kunst. Es folgt eine Existenz im Ausnahmezustand des enthusiastischen Zweifels. Angezündet durch Johann Kresnik und Frey Faust, beginne ich ab 1990 für den zeitgenössischen Tanz zu brennen. Die Politik des exzentrischen Körpers! Ich brauche meine Nische, und das ist sie.
Als Tanzkritiker etabliere ich meine Arbeit ab 1996 im deutschen Sprachraum, erweitere mich in Diskursräume, gebe ein kleines Buch heraus, veröffentliche eine Monografie (2001), schreibe Essays, bin später Mitherausgeber eines weiteren tanzassoziierten Buchs. Ich werde eingeladen, an der Linzer Bruckneruni Performancetheorie zu unterrichten – und nehme an. 2006 kommt mein Sohn Robin zur Welt, in demselben Jahr ergreife ich eine Gelegenheit und gründe mit einer Gruppe von interessierten Leuten das Internetmagazin corpus.
Bereits davor mutiert die Praxis des Berufausübens zum zähen Projekt, insbesondere die permanente Balance unterschiedlicher Auftraggeber-Mikropolitiken. Sie läßt sich besser verarbeiten, als ich zu akzeptieren beginne, daß „Lebenserfahrung“ ein Begriff mit poetischem Potential ist. Der Wandel des makropolitischen und kulturellen Klimas während der Zehnerjahre versetzt mich in unablässiges Staunen. Ich betrachte das Betreiben von corpusweb.net bis 2021 als eine Langzeit-Expedition. Im November vor Ausbruch der Pandemie lockt mich das literarische Schreiben wieder an. Es wird zu einer meiner Motivationen, diese Versuchsräumen in Schichten einzurichten.
(30.11.2025)