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helmut ploebst

Kommentar zum Vorwort #1

WENN EIN STURM AUFZIEHT, MUSS DER HUND HANDELN

Von Canis Operandi

„Der Urheber, sein Herausgeber und Ich samt deren Stellvertretern, Masken und Darstellern in Personalunion“, schreibt er. In Personalunion! Als ob er sich nicht einfach so hinstellen könnte, wie es ist: eine Figur, zwei Hände an der Tastatur. Stellen Sie sich – oder stell’ Dir, ist mir doch egal – vor: Heute, am 23. November 2025, zieht er den ersten Band seiner Fackel-Ausgabe aus dem Regal und liest nach, was Karl Kraus als Vorwort zum ersten Heft geschrieben hat. Dabei denkt er: „Mit nur 25 Jahren hat Kraus seine Fackel-Reihe begonnen.“

 

Heißt das möglicherweise, daß sich mit Karl Kraus vergleichen will – nur weil er hin und wieder kritische Artikel geschrieben hat und ab und zu das Grab des Spitzfedrigen am Wiener Zentralfriedhof besucht? Lächerlich. Aber es wird noch absurder. Er denkt auch: „Ich wurde auf den Tag genau 25 Jahre nach Kraus’ Tod geboren.“ Und, aber jetzt endlich mit angemessener Ironie, daß Kraus, wie der tückische Vater des Schreibers, bereits im Alter von zweiundsechzig gestorben ist, ebenfalls an einem Herzversagen.

 

Der Verfasser von Die letzten Tage der Menschheit war seit 1933 – als der erwähnte Vater geboren wurde – herzkrank gewesen. Jedenfalls mußte er die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich 1938 nicht mehr erleben. Nein, der sich hier aufführende Schreiber hat nie die Konsequenz eines Karl Kraus besessen. Nicht mit fünfundzwanzig und auch nicht danach. Er wurde in den nachkriegszeitlichen Aufschwung hineingeboren und verlor spätestens mit dreißig das Interesse an Grabenkämpfen, wie Kraus sie sich mit den von ihm so brillant Angegriffenen geliefert hatte.

 

An einer Herzkrankheit ist vor rund zehn Jahren auch David Axmann gestorben, der dem Autor früh ein unschätzbarer Mentor war. Von seinem Tod 2015 war ich Hund – sein eigener hieß, wie der von Sigmund Freud, Jofi – so schockiert, daß ich nicht einmal zu einer von Daniela Strigl initiierten Gedenkveranstaltung kommen konnte. Obwohl wir zuletzt nicht mehr viel Kontakt hatten, sitzt mir dieser Verlust noch im Herzen, als hätte ich ihn erst gestern erfahren.

 

Aber zurück zum Vorwort, das nicht unkommentiert bleiben kann. Kein Wort von einer Leuchte. Die Fackel hatte aufklärerischen Furor. Wird hier in den Versuchsräumen ebenfalls ein solcher versprochen? Wird in diesem Vorwort wenigstens ein Nachtsichtgerät angekündigt? Ich weiß, daß die „Personalunion“ Pläne entworfen hat für etwas, das aus diesen Schichten entstehen soll. Und, daß seit Jahren daran herumgewerkt wird.

 

Ich weiß auch, daß die „Personalunion“ das Gefühl hat, ihr fehle der Kontakt zum bisher Geschriebenen: Weil dem Autor die eigenen Texte und was auch sonst immer verschwinden, sobald sie abgeschlossen sind. Alles Abgeschlossene läuft dem Ich des Urhebers davon, und sein Es hat immer fasziniert dabei zugeschaut, wie das Geschriebene wegspringt, in der Art wie ein untreuer Köter: seitwärts ins Unterholz. Aber der Urheber hat auch immer gewußt, daß er das Entwichene und Verschollene eines Tages wieder einfangen müssen wird.

 

Die „Personalunion“ lebt inmitten einer Ansammlung von Materialien, die sie „Hareys Archiv“ getauft hat. Die Gründe dafür sind umständlich zu erklären, also lasse ich das jetzt bleiben. Nur soviel: Mit Harey wird auf die Freundin des Protagonisten aus Stanisław Lems Roman Solaris angespielt, der zufällig im Jahr 1961 erschienen ist. Aber die Harey des Archivs hat, soviel muß ich verraten, auch eine Verbindung zur Figur der alert recherchierenden Lisbeth Salander aus Stieg Larssons Krimi Die Verblendung. Diese Harey ist, wie hier in den Versuchsräumen nachgewiesen, bereits vor einigen Jahren auf corpusweb.net zu Wort gekommen.

 

Ich bin ein „Hund des Handelns“. Die „Personalunion“ mag Hunde, nur nicht in ihrer Nähe. Ich bin der Hund, canis und κύων, kyon, ihres Handelns. Zu mir unterhält sie eine ambivalente Beziehung, denn sie muß immer wieder mitansehen, wie ich versuche, ihr zu entlaufen. Obwohl sie mich an kurzer Leine hält, die irgendwo in ihrer Nähe angebunden ist. Mein Ort ist der Κυνόσαργες‚ Kynosarges, das ist der altgriechische Name eines Athener Gymnasiums. Er bedeutet: „Wo der Hund liegen blieb.“ Jede Behauptung, ich wäre Teil der „Personalunion“, ist unzutreffend. Der Kyniker Diogenes von Sinope hat sich als Hund bezeichnet. Vielleicht gibt es da eine kleine Berührung. Mir steht, ehrlich gesagt, so mancher Alexander in der Sonne.

 

Womit ich schon wieder zu dem Vorwort zurückkehre, und zwar zur Bemerkung der „Personalunion, daß sie ihr Netzmedium aus purem Vergnügen“ produziere „und die alte Behauptung vom ,Tod des Autors‘ aus den 1960er Jahren nach wie vor als äußerst unterhaltsam“ ansehe. In meinen  Ohren klingt das trotzig. Ein Alexander schlüpft aus dem anderen, wie eine „Alexandrjoschka“, und das vor unseren Augen, und du redest von purem Vergnügen? Als etwas Untotes, das sich im Faßhüpfen übt, weil ihm – „Alas, poor Yorick!“ (so spricht Hamlet den exhumierten Hofnarren an) – der jüngst ausgebrochene Einbruch des über Jahrzehnte andauernden infinite jest (Hamlet über Yorick: „a fellow of infinite jest, of most excellent fancy“, was David Foster Wallace 1996 zu seinem Romantitel verhalf) so unerträglich die Fußsohlen kitzelt.

 

Viel Spaß suchen und haben die Leute auch an einem Feiertag, an dem bei Goethe auch Heinrich Faust und sein Famulus Wagner die frische Luft genießen. Als sie sich abends auf der Heimkehr von ihrem Spaziergang befinden, fällt dem Gelehrten ein Hund auf, den Wagner nicht weiter beachtet hat.

Faust.
Betracht’ ihn recht! für was hältst du das Thier?

Wagner.
Für einen Pudel, der auf seine Weise
Sich auf der Spur des Herren plagt.

Faust.
Bemerkst du, wie in weitem Schneckenkreise
Er um uns her und immer näher jagt?
Und irr’ ich nicht, so zieht ein Feuerstrudel
Auf seinen Pfaden hinterdrein.

Wagner.
Ich sehe nichts als einen schwarzen Pudel,
Es mag bey euch wohl Augentäuschung seyn.

Faust.
Mir scheint es, daß er magisch leise Schlingen,
Zu künft’gem Band, um unsre Füße zieht.

Bald wird Faust erfahren, was in dem Tier steckt: „Das also war des Pudels Kern! / Ein fahrender Scolast? Der Casus macht mich lachen.“ Shakespeares Prospero sagt in Der Sturm: „We are such stuff / As dreams are made on.“ Möglicherweise brachte das den Österreicher Johannes Mario Simmel 1971 dazu, seinen Bestseller über Praktiken der damaligen deutschen Boulevardpresse Der Stoff aus dem die Träume sind zu nennen. Stoff, das ist es! Wenn ein Sturm aufzieht, muß der Schlingen ziehende Hund handeln. Der Mann mit dem Mützchen aus Michail Bulgakows Der Meister und Margarita schildert in seinem Manuskript über Pontius Pilatus: „Die Finsternis, die vom Mittelmeer herüberkam, deckte die dem Prokurator verhaßte Stadt zu.“

 

Kann sein, daß der „Personalunion“ in den Nächten ihrer knurrenden Träume eine infrarote Funzel leuchtet. Ich setze zum Sprung an und stelle mir vor, wie ich mich in die Finsternis verbeiße.

 

(30.11.2025)